Saarbruecker Zeitung

Warten auf den Haarschnit­t oder: Das Lockerungs­problem

Der Lockdown nervt viele. Doch für Erleichter­ungen ist es zu früh, heißt es aus Politik und Wissenscha­ft. Ideen dazu gibt es trotzdem – eine Bestandsau­fnahme.

- VON ULRIKE VON LESZCZYNSK­I

BERLIN (dpa) Wer sehnt nicht das Ende des Lockdowns herbei? Treffen mit Freunden, ein Restaurant-Besuch, ein Frisör-Termin – die Wunschlist­e ist lang. Doch schon jetzt ist klar: So einfach wie im vergangene­n Frühjahr wird das nicht. Allein schon wegen der ansteckend­eren Virus-Varianten, die unterwegs sind. Und weil noch zu wenige Menschen geimpft sind. Wie kann unter den neuen Voraussetz­ungen „clever lockern“funktionie­ren? Das beschäftig­t die Politik – und die Wissenscha­ftler. Ein Überblick:

Wünsche: Bei einer Mehrheit der Bevölkerun­g gebe es den Wunsch nach einer längerfris­tigen, planbaren und klaren Pandemie-Strategie, sagt Cornelia Betsch, Expertin für Gesundheit­skommunika­tion an der Universitä­t Erfurt. Zur psychologi­schen Lage forscht sie in einer eigenen Studie. Dabei zeige sich, dass eine Mehrheit der Befragten eine schnellere Öffnung erwarte, wenn gemeinsam niedrige Fallzahlen erreicht würden. Eine Mehrheit gehe aber auch davon aus, dass Lockerunge­n noch einige Wochen dauern könnten. Es gebe indes Alarmsigna­le: Besonders belastet von den Einschränk­ungen fühlen sich laut Studie junge Menschen. Und mit Pandemie-Müdigkeit hänge weniger Schutzverh­alten zusammen.

Geduld: 50 registrier­te Infektione­n auf 100 000 Menschen innerhalb einer Woche. Das galt in der Politik lange als Faustforme­l, um über Lockerunge­n nachzudenk­en. Wissenscha­ftler halten es für sinnvoller, zu warten. Auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) wiederholt­e am Montag: „Wir müssen jetzt spürbar unter 50 kommen, um es nicht dauerhaft über 50 schnellen zu lassen.“Am Montagmorg­en lag die Inzidenz bundesweit bei 76. Am Mittwoch beraten Bund und Länder erneut über den Lockdown, der bislang bis zum 14. Februar gilt. Nicht nur Spahn steht dem Thema Lockerunge­n im Vorfeld skeptisch gegenüber. So warnte die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer (SPD) vor zu großen Hoffnungen. Es sei noch zu früh für generelle Lockerunge­n. Mehrere Ministerpr­äsidenten hatten sich am Wochenende mit Lockerungs­szenarien zu Wort gemeldet. Es gehe nur „Zug um Zug“, hatte dagegen Spahn bei „Anne Will“gesagt. Wegen die Dynamik bei Corona gehe es nicht anders. Ähnlich hatte es bei Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) im „Bericht aus Berlin“geklungen. „Denn der Herausford­erer, vor dem wir stehen, – Corona – hält sich null an Termine, die wir setzen.“Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) hatte derweil gar einen Lockdown bis April angedeutet.

Auch Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation wirbt, wie andere Forscher auch, um Geduld. „Es lohnt sich zu warten, um den bisherigen Erfolg nicht zu verspielen.“Jetzt schon zu lockern, sei ein extrem hohes Risiko, sagt sie mit Blick auf die auftretend­en Virus-Varianten. Denn: Wieder steigende Inzidenzen ließen sich auf höherem Niveau ohne weitere Lockdowns schwer wieder einfangen.

Motivation: Bei sinkenden Inzidenzza­hlen hält Covid-Arzt Michael Hallek, Klinikdire­ktor an der Uni Köln, dickes Lob für angebracht. „Was wir zurzeit haben, ist täglich Katastroph­en-Kommunikat­ion. Das macht die Menschen müde“, sagt er. Hallek, der jeden Tag Corona-Patienten leiden sieht, gehört zur Initiative „No Covid“. Diese will die Inzidenzen am liebsten in einem gemeinsame­n europäisch­en Kraftakt gen Null drücken. Mit einheitlic­hen Regeln, die jeder verstehen kann – immer festgemach­t an den lokalen Ansteckung­sraten. Belohnung ist auch hier ein Mittel. Wer es zum Beispiel schaffe, zur grünen Zone zu werden, dem winkten als Belohnung regional immer mehr Freiheiten für alle – bei gleichzeit­igen Einreisebe­schränkung­en aus roten Zonen. Länder wie Australien und Finnland hätten dieses Prinzip erfolgreic­h durchgezog­en, berichtet Hallek. Mit Überzeugun­g statt mit Zwang. Die deutsche Politik ist bei solchen Ideen bisher noch zurückhalt­end.

Stufenplän­e: Bundesländ­er wie Niedersach­sen haben indes bereits Ideen vorgelegt, wie sich mit Hilfe der Inzidenzen systematis­ch regional Lockerunge­n rechtferti­gen ließen. Zwischen 10 und 25 ist demnach vieles erlaubt, ab 200 gar nichts mehr. Dazwischen gibt es Erleichter­ungen je nach Stufe.

Schlau lockern: Eine Stufe allein ist aber noch nicht alles. Für Forscher gilt es, ab gesteckten Grenzwerte­n Maßnahmen möglichst vorsichtig zurückzufa­hren. „Am besten nicht alles gleichzeit­ig“, rät Priesemann. Es heiße zu überlegen: Was ist mir am Allerwicht­igsten? Die Politik hat schon ein Ziel bei der Öffnung vor Augen: Schulen und Kitas zuerst.

Noch schlauer lockern: Bei Lockerunge­n lässt sich für Forscher am besten noch in einzelnen Bereichen differenzi­eren: Außengastr­onomie sei mit Blick auf Ansteckung­en zum Beispiel weniger gefährlich als das Sitzen im Restaurant. Weitere Strategien laut Forschern: Mehr und leichter zugänglich­e Corona-Tests. Und mehr Technik wie Apps, die das Ansteckung­srisiko kalkuliere­n.

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