Saarbruecker Zeitung

„Eine desaströse Arbeitskul­tur“

Treffen mit Waffenhänd­lern, Mobbing und Abweisung von Flüchtling­en: Die EU-Grenzschut­zagentur Frontex gerät unter Druck.

- VON DETLEF DREWES

Wenn die EU-Mitgliedst­aaten nicht mehr weiter wissen, kommt Frontex ins Spiel. Die EU-Grenzschut­zagentur mit Sitz in Warschau wird seit Anfang dieses Jahres systematis­ch ausgebaut. Rund 1000 Mitarbeite­r, die von den Mitgliedst­aaten entsandt werden, sind üblicherwe­ise mit der blauen Fahne am Ärmel in Griechenla­nd, Albanien oder Kroatien tätig. Ihre Aufgabe: die Außengrenz­en der Europäisch­en Union gegen illegale Migranten zu sichern und die Mitgliedst­aaten bei der Rückführun­g zu unterstütz­en. Bis 2027 soll eine „Reserve Eins“aufgebaut werden. Ihr Auftrag: Ein modernes Grenzmanag­ement installier­en, damit nur noch der in die EU reinkommt, der auch dazu berechtigt ist. Der Auftrag klingt vielverspr­echend, weil er sozusagen das Bollwerk gegen jene Flüchtling­e verstärken soll, die keinen Anspruch auf Asylschutz haben.

Doch die Agentur und insbesonde­re ihr Direktor, der 52-jährige Franzose Fabrice Leggeri, sind ins Gerede gekommen. 2015 übernahm der frühere Verwaltung­sbeamte aus Frankreich, der sich als Spezialist für schwierige Migrations­themen einen Namen gemacht hatte, die Leitung der Agentur. Seit 2018 häufen sich die Vorwürfe – vor allem wegen sogenannte­r Pushbacks, also der Abweisung von Flüchtling­en, teilweise unter dramatisch­en Umständen. Seit dem vergangene­n Wochenende gibt es neue Anschuldig­ungen, die das Nachrichte­nmagazin Spiegel und weitere europäisch­e Zeitungen unter Berufung auf das internatio­nale Recherche-Netzwerk „Lighthouse Reports“erhoben haben.

Selbst das ZDF-Satiremaga­zin „Royale“mit Jan Böhmermann setzte das Thema am vergangene­n Freitag auf sein Programm. „Weil Frontex seiner Verantwort­ung als EU-Agentur nicht gerecht wird, hat ‚Royale‘ diese Aufgabe übernommen“, hieß es von der Redaktion. Berichtet wurde von 142 Dokumenten (Programme, Teilnehmer­listen, Präsentati­onen und Werbekatal­oge), die belegen sollen, dass Frontex zwischen 2017 und 2019 insgesamt 16 sogenannte „Industry-days“veranstalt­et hat. Eingeladen waren führende Waffenhers­teller und Regierungs­vertreter unter anderem von Angola, Serbien, dem Kosovo oder Saudi-Arabien. Es ging in erster Linie um Waffen und Technologi­en zum Außengrenz­schutz. Offiziell habe es sich um Treffen mit Unternehme­n gehandelt, die auch im Transparen­zregister der EU gelistet sein sollen. Es gibt Zweifel.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit Anfang des Jahres ermittelt die EU-Antikorrup­tionsbehör­de Olaf gegen Frontex. Seit vielen Monaten gibt es immer wiederkehr­ende Berichte darüber, dass die Grenzschut­zagentur die Arbeit ihrer spanischen Beauftragt­en für die Beachtung der Grundrecht­e, Inmaculada Arnáez, blockiert – ganz davon abgesehen, dass die von den EU-Staaten erwünschte­n 40 weiteren Grundrecht­sspezialis­ten bis heute nicht eingestell­t wurden. Mobbing-Beschuldig­ungen stehen im Raum. Und dann sind da eben noch die Pushbacks, also das zum Teil gewaltsame Abweisen von Flüchtling­sbooten, die – einigen Berichten zufolge – sogar mit Wissen und unter den Augen von Frontex in türkische Gewässer zurückgesc­hleppt wurden.

„Die neuen Berichte über die desaströse Arbeitskul­tur und verheimlic­hte Lobbytreff­en mit der Rüstungsin­dustrie reihen sich nahtlos in das katastroph­ale Bild ein, das Frontex unter Führung von Exekutivdi­rektor Fabrice Leggeri abgibt“, sagte die innenpolit­ische Expertin der sozialdemo­kratischen Fraktion im EU-Parlament, Birgit Sippel, am Montag gegenüber unserer Zeitung. „Es ist höchste Zeit, dass die Mitgliedst­aaten und die Kommission im Verwaltung­srat Leggeri aus seinem Amt entfernen.“Tatsächlic­h kann das nur der Verwaltung­srat, den die EU-Regierunge­n besetzen. Sogar EU-Innen-Kommissari­n Ylva Johansson sind die Hände gebunden. Inzwischen wird im Abgeordnet­enhaus der EU erwogen, selbst aktiv zu werden. Die Haushaltsk­ontrolleur­e könnten die Entlastung der EU-Agentur verweigern, weil Steuergeld­er der Unionsbürg­er 2019 nicht sachgemäß ausgegeben wurden. Die Verärgerun­g über den Frontex-Chef ist, auch wegen zweier Anhörungen, bei denen Leggeri nur ausweichen­d antwortete, groß. Einer der Volksvertr­eter sagte offen: „Entweder er tritt zurück oder wir schmeißen ihn raus.“

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FOTO: JESUS MERIDA/SOPA IMAGES VIA ZUMA WIRE/DPA Die EU-Staaten wollen die Außengrenz­en Europas stärker schützen und bauen die Grenzschut­zagentur Frontex massiv aus. Doch gegen die Behörde werden heftige Vorwürfe erhoben.
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FOTO: JANEK SKARZYN SKI/AFP Im Mittelpunk­t der Kritik: Frontex-Chef Fabrice Leggeri

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