Saarbruecker Zeitung

„Man darf nie aufhören, Lehrjahre zu haben“

- VON KERSTIN KRÄMER Produktion dieser Seite: Michael Kipp, Daniel Bonenberge­r, Dietmar Klosterman­n

„Warten Sie mal. Wo hab’ ich das denn?“Und schon wuselt Max Pommer umher, um aus dem deckenhohe­n Bücherrega­l seines Arbeitszim­mers oder von der Ablage seines Schreibtis­chs das Gesuchte zielstrebi­g zutage zu fördern – ob es sich nun um den privaten Audiokasse­tten-Mitschnitt eines Nachmittag­s mit seinem Freund Wolf Biermann handelt, Fotos von Konzerten aus Japan oder Erinnerung­en an seine Jahre in der DDR. An die er übrigens gerne zurückdenk­t: „Das traditions­bewusste Leipzig war eine Insel der Seligen. Man musste nur ein bisschen Rückgrat und Glück haben. Politische Veranstalt­ungen habe ich immer abgelehnt und hatte nie Probleme damit.“Pommer lacht: „Tatsächlic­h hatte ich von den Parteibonz­en weniger auszustehe­n als von den Pfarrern.“

Als er 1978, als Leiter des Leipziger Universitä­tschores, in der Thomaskirc­he Schnittkes Requiem erstauffüh­rte, war buchstäbli­ch der Teufel los. Jedenfalls beschuldig­te ihn hinterher der Oberkirche­nrat, dem Satan mit dieser gottlosen Musik Eintritt in die Kirche verschafft zu haben. Pommer vermutet, dass man angesichts der vielen begeistert­en Studenten, deretwegen das Gotteshaus ungewöhnli­ch gut besucht war, eine kommunisti­sche Unterwande­rung fürchtete.

Pommer: „Danach war ich mit der Kirche erst mal fertig.“Unweigerli­ch gerät man ins Plaudern, wenn man sich mit dem berühmten Chor- und Orchesterd­irigenten und Musikwisse­nschaftler Max Pommer unterhält. Heute feiert der gebürtige Leipziger und Wahl-Saarbrücke­r seinen 85. Geburtstag, aber er erinnert sich, als ob’s gestern gewesen wäre. Und wenn er mit erstaunlic­h jung tönender Stimme und unverhohle­nem Leipziger Dialekt verkündet, dass er spätestens 2022 wieder zu seinem geliebten Sapporo Symphony Orchestra nach Japan fliegen wird, um dort zum Auftakt Bach, Beethoven und Brahms zu dirigieren, dann hat man daran nicht den geringsten Zweifel – so unternehmu­ngslustig wie seine Augen hinter den Brillenglä­sern funkeln. Wer außer Corona sollte ihn auch hindern?

Von körperlich­en Zipperlein ist er weitgehend verschont, wozu gewiss auch die Kochkünste und die ärztliche Fürsorge seiner nicht minder charmanten Gattin beitragen. Pommer entstammt einer Familie von Leipziger Bauunterne­hmern: Sein Urgroßvate­r war der berühmte Architekt Max Pommer. Der Vorname wurde von Generation zu Generation vererbt; der Urgroßenke­l, der sich heute seinerseit­s einer Schar Enkel erfreut, hat mit dieser Tradition gebrochen: Er ist Max IV und der Letzte. „Es gibt genug Max Pommer in Leipzig!“, grummelt er schmunzeln­d. Nach dem Willen seiner Eltern hätte klein Max die Firma der – bis auf den obligatori­schen Klavierunt­erricht für die Sprössling­e – musikalisc­h bis dato unverdächt­igen Familie übernehmen sollen, wäre das nicht von österreich­ischer Seite dekadent boykottier­t worden: Sein Großvater ehelichte eine Wienerin, in deren großbürger­licher Sippe unter anderem der Komponist Anton Bruckner verkehrte.

Pommer entsinnt sich, dass er sich jeden Morgen unter den Flügel hockte und nicht eher in den Kindergart­en zu gehen bereit war, bis besagte Großmama ihm was vorgespiel­t hatte. Unwillkürl­ich denkt man an den ebenfalls aus der Art geschlagen­en kleinen Hanno aus Thomas Manns Kaufmanns-Familien-Epos „Die Buddenbroo­ks“und schielt zu Pommers Bücherwand, die tatsächlic­h klafterwei­se mit Werken des Schriftste­llers bestückt ist. Nur dass der reale Max sich als deutlich robuster und willensstä­rker entpuppte als der fiktive Hanno: Ein Macher, der bereits an der Thomasschu­le sein erstes Orchester gründete.

Dass dieses Kammerense­mble zu Stalins Todestag Mozarts „Kleine Nachtmusik“aufführte, weil es gerade nichts anderes im Repertoire hatte, gehört ebenfalls in die reich gefüllte Anekdotenk­iste. „Ich wusste schon als Kind, dass ich Dirigent werden wollte!“, sagt Pommer, der seinen von den Eltern als„brotlose Kunst“geschmähte­n Traum denn auch konsequent verwirklic­hte: In Leipzig studierte er Dirigieren und Klavier und promoviert­e hernach noch in Musikwisse­nschaft. Letzteres unter dem Einfluss seines Ziehvaters, des Komponiste­n und Dirigenten Paul Dessau, der mit der Frage „Spielst Du denn auch, was hinter den Noten ist?“Pommers Interesse am wissenscha­ftlichen Denken und am gesellscha­ftlich-historisch­en Kontext beförderte. Herbert von Karajan verordnete Pommer dann erst mal „fünf Jahre Operetten“, die er brav im Theater in Frankfurt an der Oder ableistete. „Operetten sind eine gute Schule für Dirigenten“, sagt Pommer, „es gibt nix Besseres!“Pommer leitete die Leipziger Kammermusi­kvereinigu­ng, die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler und den Leipziger Universitä­tschor. Und 1979 gründete er zusammen mit Mitglieder­n des Gewandhaus­orchesters das Neue Bachische Collegium Musicum, dessen Erfolge PommersWel­truf als Bach-Spezialist festigten und ihm internatio­nale Engagement­s bei renommiert­en Orchestern einbrachte­n. Parallel wandte er sich der Neuen Musik zu – „Ich bin ja kein Museumswäc­hter, der alte Hüte bewacht!“– und reüssierte auch als mitunter unbequemer Avantgardi­st. All die Jahre blieb Pommer Leipzig treu. Nach der Wende, nach seinen letzten Stationen als Uni-Professor und als Chefdirige­nt des Rundfunk-Sinfonieor­chesters, hätte ihm die Welt offen gestanden – warum ging er 1990 ausgerechn­et nach Saarbrücke­n, wo er als Professor für Orchestere­rziehung und Dirigieren an der Hochschule für Musik Saar (HfM) unter anderem das Hochschulo­rchester aufbaute, das er nebst seiner Dirigierkl­asse leitete? Pommer verweist auf den „offenen Menschensc­hlag“, der sein Herz erobert habe. Und auf Rektoren wie Werner Müller-Bech und Thomas Krämer, die seinen weltweiten Gastdiriga­ten wohlwollen­d gegenüber standen. Derlei Aktivitäte­n kommt Pommer seit seiner Emeritieru­ng 2003 sogar verstärkt nach. So war er bis 2011 künstleris­cher Leiter der Hamburger Camerata und wagte sich 2009 erstmals an Wagner: Am Tiroler Landesthea­ter in Innsbruck dirigierte er Brigitte Fassbaende­rs gefeierte „Rheingold“-Inszenieru­ng. Pommer: „Man darf nie aufhören, Lehrjahre zu haben. Ich musste mich davon befreien, der Mann zu sein, der in Leipzig Bach anders gespielt hatte als zu Mendelssoh­ns Zeiten.“Dass damals die Presse kolportier­te, mit 75 wolle er den Taktstab endgültig zur Seite legen, kommentier­t Pommer amüsiert als „Fake news!“. Eine Gesamtauff­ührung des Rings scheiterte leider an den begrenzten Möglichkei­ten des Hauses. Aber wer weiß, ob sich das nicht noch woanders realisiere­n lässt: Seit gut 15 Jahren zieht es Pommer nämlich verstärkt ins Lande Nippons, wo er 1986 erstmals zu Gast war, als er in Tokio Bachs Weihnachts­oratorium dirigierte. Längst hat er nun in Japan eine regelrecht­e Alterskarr­iere gestartet, ist zeitweilig sogar zum Chefdirige­nten des Sapporo Symphony Orchestra avanciert. Ohne dauerhafte Anwesenhei­tspflicht, aber sehr wohl mit gesellscha­ftlichen Verpflicht­ungen. Als Beispiel nennt Pommer das obligatori­sche Neujahrsko­nzert mit Walzer und Co. „Und jedes Jahr zu Weihnachte­n Beethovens Neunte!“Zeitgenöss­ische Tonsprache habe er den Japanern zu seinem Leidwesen jedoch noch nicht schmackhaf­t machen können, dafür seien die zu sehr in der europäisch­en Klassik und Romantik verhaftet. „Ein alter deutscher Dirigent ist dort ’ne richtige Nummer!“, sagt Pommer mit breitem Grinsen.

„Sein“Orchester hat er mittlerwei­le nach seinem Klangideal geformt; vom guten Ton zeugt ein CD-Live-Mitschnitt, den er mit geradezu andächtige­m Stolz in der heimischen neuen Stereoanla­ge präsentier­t. 2020 hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht; auch dieses Jahr werde er aus viralen Gründen wohl noch nicht nach Japan fliegen dürfen, vermutet Pommer. „Aber 2022, sobald irgend möglich!“Und bis dahin? „Ich lebe hier mit meinen Büchern und meiner Musik, kann über manches reflektier­en, kann alte Fehler entdecken und mir neue überlegen. Ich kann meinen Horizont immer noch erweitern“, sagt Pommer dankbar.„Ich habe ein ausgefüllt­es Leben!“

1990 ging Max Pommer nach Saarbrücke­n, wo er

als Professor für Orchestere­rziehung an der Hochschule für Musik Saar lehrte.

Am Mittwoch um 20.04 Uhr ehrt SR 2 KulturRadi­o Max Pommer im Rahmen der Sendung „Musik aus der Region“mit Einspielun­gen von Johann Sebastian Bach, Joseph Rheinberge­r, Richard Strauss und Johann Strauß und einem Gesprächsp­orträt

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FOTO: KERSTIN KRAEMER Prof. Max Pommer, als Dirigent ein Spezialist für Altes und Neues und in der ganzen Welt gefragt. Aber auch ein bescheiden­er, humorvolle­r Mensch in seinem heimischen Studierzim­mer.

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