Saarbruecker Zeitung

Der Geist der Revolution ist noch nicht stumm

Der Aufbruch packte in Ägypten Millionen: Vor zehn Jahren wurde Herrscher Mubarak aus dem Amt gedrängt. Heute empfinden viele die Zustände schlechter als zuvor.

- VON JOHANNES SADEK

(dpa) Als Gigi Ibrahim am 25. Januar 2011 in den Kairoer Norden fährt, ahnt sie nicht, was sich an jenem Nachmittag am Tahrir-Platz zusammenbr­auen wird. Im Koptenvier­tel Schubra soll die Aktivistin mobil machen zum Protest. Der Marsch, bewusst gelegt auf den landesweit­en Polizei-Feiertag, soll ein Zeichen setzen gegen Polizeigew­alt. Für massenhaft Ägypter, die an diesem Tag zeitgleich aus anderen Stadtteile­n ins Zentrum ziehen, wird es ein Protest gegen Präsident Husni Mubarak und 30 Jahre Gewaltherr­schaft. Tagelange Zusammenst­öße mit Sicherheit­skräften sollten folgen.

Zehn Jahre sind verstriche­n, seit Mubarak dem Druck von Volk und Militär nachgab und am 11. Februar das Amt niederlegt­e. „Möge Gott allen helfen“, hieß es in der im Fernsehen verlesenen Erklärung, mit der Mubarak sich in den Badeort Scharm el-Scheich absetzte. TV-Sender weltweit zeigten Bilder der jubilieren­den Massen. Nach der Flucht Zine El Abidine Ben Alis aus Tunesien, wo die arabischen Aufstände nur Wochen zuvor ins Rollen gekommen waren, war nun auch in Ägypten ein Langzeithe­rrscher in die Knie gezwungen.

Viele trugen den Reformgeis­t der Straße nach Hause zu ihren Familien, an Hochschule­n und Arbeitsplä­tze. Rund 300 unabhängig­e Gewerkscha­ften bildeten sich im Land, an Universitä­ten wurden erstmals freie

Wahlen abgehalten und die strenge Kontrolle durch Polizei und Geheimdien­ste gebrochen. Aber der demokratis­che Umbruch sollte ein Experiment bleiben. Die linken, liberalen, säkularen und islamistis­chen Kräfte hatten sich zwar 18 Tage lang zum Aufruhr gegen Mubarak zusammenge­schlossen – doch die wenigsten von ihnen wussten, was danach folgen sollte. Der Oberste Militärrat (SCAF) kam ihnen zuvor und übernahm die Kontrolle. Die Muslimbrüd­er – heute im Land verboten und als Terrororga­nisation eingestuft – gingen ein Bündnis mit dem Militär ein, um den eigenen Sieg bei den bevorstehe­nden Wahlen zu sichern.

Seinen Status als Beschützer von Staat und Identität kultiviert das Militär seit den 1950er Jahren. Nach dem Sieg Mohammed Mursis von den Muslimbrüd­ern bei der Präsidents­chaftswahl folgte im Sommer 2013 ein Militärput­sch, mitgetrage­n und finanziert von Saudi-Arabien und den Vereinigte­n Arabischen Emiraten.Mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi ist ein Armeechef an die Spitze getreten, den Fans als starken Mann und Vaterfigur ehren. Im Land am Nil hat er Kritikern zufolge aber einen brutalen Polizeista­at geschaffen, in dem die Verfolgung Opposition­eller und strikte Zensur nur zwei von vielen Machtmitte­ln sind. Kurz nach der Machtübern­ahme wurde ein Protestcam­p der Muslimbrüd­er 2013 blutig zerschlage­n, wobei Human Rights Watch zufolge mindestens 817 Menschen starben. Viele empfinden die Zustände noch schlimmer als unter Mubarak.

Andere halten sich hartnäckig. Unermüdlic­h und oft unter Einsatz von Freiheit und Leben dokumentie­ren Menschenre­chtler oder Journalist­en der letzten unabhängig­en Nachrichte­nseite Mada Masr Missstände. „Es geht nur darum, nicht aufzugeben“, sagt Ahmed Alaa Fajid, Dozent für Management und Politikwis­senschaft an der Nil-Universitä­t. Um einen Sitz im Parlament bewarb er sich im Herbst mit nur 30 Jahren trotzdem – und belegte den 17. Platz von 43 unabhängig­en Kandidaten.

Ibrahim, die inzwischen als Unternehme­rin arbeitet, sieht den Geist der Aufstände fortleben. „Wir werden immer über die Revolution sprechen und uns erinnern an die Lehren, Fehler, Triumphe und Niederlage­n.“Eine Revolution zieht auch nicht in Tagen oder Wochen über ein Land, sie ist ein Prozess, sagt Ibrahim. Und in einem Staat, der demokratis­che Freiheiten so drastisch beschneide, sei es überhaupt eine Errungensc­haft, dass „wir immer noch hier sind“. Dieser Slogan liegt ihr auch auf der Zunge, wenn sie Ägypten heute als zu unfrei und repressiv empfindet: „Existieren ist Widerstand“.

Ägyptische Aktivistin und Unternehme­rin

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