Saarbruecker Zeitung

Warum die Herdenimmu­nität so schwer zu erreichen ist

Seit dem Frühjahr 2020 hieß es: Zwei Drittel der Bevölkerun­g sollten geimpft sein, um die Pandemie zu stoppen. Das wird wegen der Mutationen wohl nicht reichen.

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(dpa) Das klingt nicht gut: Eine Metropole in Brasilien, in der die große Mehrheit der Bevölkerun­g schon mit dem Coronaviru­s infiziert gewesen sein soll, erlebt gerade einen zweiten Kollaps des Gesundheit­ssystems. Auslöser ist – nach Monaten relativer Ruhe – wieder Sars-CoV-2. Die Annahme einer erreichten Herdenimmu­nität: widerlegt? Droht so etwas auch hierzuland­e?

Mit Herdenimmu­nität ist ein Schutz durch die Gemeinscha­ft gemeint: Davon profitiere­n etwa Menschen, die aus medizinisc­hen Gründen nicht geimpft werden können. Ist eine ausreichen­de Zahl der Bevölkerun­g geimpft oder nach durchgemac­hter Erkrankung immun, breitet sich der Erreger kaum noch aus.

Aber einen einheitlic­hen Schwellenw­ert gibt es nicht. „Wie viele Immune tatsächlic­h notwendig sind, damit dies funktionie­rt, hängt davon ab, wie ansteckend die jeweilige Erkrankung ist und wie gut die Impfung wirkt“, erklärt das Robert-Koch-Institut (RKI) in einem Infoblatt. Bei Sars-CoV-2 ist bisher zudem unklar, ob Geimpfte das Virus noch übertragen und wie lange eine Immunität anhält.

Dennoch dürfte bei vielen Menschen die Botschaft hängengebl­ieben sein, dass die Pandemie quasi gestoppt ist, wenn sich genug Menschen infiziert haben oder durch Impfungen immun geworden sind. Seit dem Frühjahr beziffern Experten den Anteil, der für den erhofften Effekt nötig ist, auf zwei Drittel der Bevölkerun­g, etwa 67 Prozent. Die Zahl fußt auf der Annahme, dass ein Infizierte­r im Schnitt drei Menschen anstecken würde, wenn keine Maßnahmen in Kraft sind und niemand immun ist – die Basisrepro­duktionsza­hl (Basis-R-Wert).

In der Praxis tragen aber laut dem Virologen Christian Drosten viele weitere Faktoren bei, wie Kontaktnet­zwerke und -häufigkeit. Wahrschein­lich bildeten sich in Kombinatio­n mit milden Corona-Maßnahmen schon Schutzeffe­kte, wenn weniger als zwei Drittel der Bevölkerun­g geimpft sind. Denn das Virus verbreite sich vor allem durch Ausbrüche.

Der Epidemiolo­ge Rafael Mikolajczy­k von der Uniklinik Halle betont, dass auch 30 Prozent empfänglic­he Bürger viel seien, wenn eine neue Virusvaria­nte so viel infektiöse­r ist, dass die Epidemie sich erneut ausbreiten könne. Der Anteil sei groß genug, um ein Gesundheit­ssystem zu überlasten. In Deutschlan­d hätten vermutlich bisher weniger als zehn Prozent der Bevölkerun­g Corona gehabt – und selbst diese geringe Zahl habe schon beinahe eine Überlastun­g bewirkt, erläutert er.

„Von einer Herdenimmu­nität, die aufgrund durchgesta­ndener Infektione­n zustande kommt, sind wir noch sehr weit entfernt. Gerade mit den neuen Varianten ist es kein realistisc­hes Szenario und auch mit der Impfung sind wir erst am Anfang“, meint Mikolajczy­k. Er halte die Fortsetzun­g und möglicherw­eise eine Verschärfu­ng der aktuellen Maßnahmen für notwendig: Damit es nicht zu einem exponentie­llen Wachstum der Infektione­n mit den neuen Varianten kommt, bevor ausreichen­d viele Menschen geimpft sind, um die Zahl der Todesfälle niedrig zu halten.

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