Die Selbstentmachtung der Länderkammer
Es ist selten geworden, dass der Bundesrat einem Gesetz seine Zustimmung versagt oder ein Vermittlungsverfahren mit dem Bundestag eingeleitet werden muss. In dieser Legislaturperiode gab es überhaupt nur fünf solcher Verfahren, in der letzten waren es drei. Zum Vergleich: Früher wurden schon mal 100 Vermittlungsverfahren pro Wahlperiode gezählt. Ebenso selten setzen sich Gesetzesinitiativen aus dem Bundesrat durch. Und das, obwohl die zweite Kammer das gleiche Vorschlagsrecht hat wie der Bundestag und die Bundesregierung. Aber was kann man erwarten, wenn es so wenig eigene Vorstöße der föderalen Ebene gibt – nur ein Fünftel von dem, was die Bundesebene regelmäßig vorlegt – und wenn diese dann auch noch ganz hinten auf die Tagesordnung verfrachtet werden. So wird es auch an diesem Freitag bei der 1000. Sitzung des Bundesrates sein. TOP 74 bis 81 – unter ferner liefen.
Die große Koalition tut dem Föderalismus erkennbar nicht gut. Wann immer die Mehrheiten im Bund knapper waren, waren die Debatten zwischen den beiden Ebenen intensiver, das Verhältnis politisierter, manchmal auch polarisierter. Oskar Lafontaine versuchte als SPD-Oppositionsführer gar, hier die konservative Bundestagsmehrheit zu blockieren. Die Union verhielt sich umgekehrt zu rot-grünen Zeiten kaum anders. Manchmal war auch unwürdiges Geschacher die Folge. Solchen Auswüchsen ist mit der Föderalismusreform von 2006 zwar ein Riegel vorgeschoben worden; der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze wurde von fast 60 auf unter 40 Prozent verringert. Doch nun ist das Gegenteil eingetreten, die Selbstentmachtung der Länderkammer. Heute ist die Lage so: Entweder man will sich als CDUoder SPD-Ministerpräsident keinen Ärger mit den Granden der Groko einzuhandeln. Oder man hält es angesichts der Übermacht dieses Lagers sowieso für aussichtslos.
Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Denn der Politik geht auf diese Weise zusätzlicher Bodenkontakt verloren, den die Länder in vielen Bereichen haben. Etwa in der Verkehrspolitik oder im Verbraucher- und Umweltschutz. Auch haben sie die praktische Erfahrung bei der Umsetzung von Gesetzen, wo man im Bund eher am grünen Tisch plant. Die politische Kreativität, die es in den Landeshauptstädten und ihren Parlamenten gibt, bleibt ebenfalls weitgehend ungenutzt. Und der Bedeutungsverlust der Landesparlamente wird noch weiter verstärkt. Der Föderalismus, ein Quell der politischen Stabilität Deutschlands, büßt so Kraft ein. Die regelmäßigen Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin ersetzen das alles nicht. Sie sind rein exekutiv und haben nur als Corona-Notregierung vorübergehend eine größere Bedeutung. Darüber hinaus kaum.
Man darf sich zur 1000. Jubiläumssitzung der Länderkammer daher für sie selbst wie für Deutschland wünschen, dass die Zeit der großen Koalition bald vorbei ist und die Zustände wieder überraschender und freier werden. Damit der Bundesrat sich mit mehr Selbstbewusstsein wieder auf jener politischen Bühne zurückmeldet, auf der die Zukunft des Landes gestaltet wird.