Josep Borrell und die Krise der EU-Diplomatie
Der viel kritisierte Auftritt des EU-Außenbeauftragten in Moskau legt die Defizite in der Außenpolitik der Gemeinschaft offen.
Die Außenpolitik der EU ist ins Gerede gekommen. Ausgelöst wurde die Krise der EU-Diplomatie durch einen unglücklichen Auftritt des Hohen Vertreters der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik in Moskau, wie der „Außenminister“der EU offiziell heißt. Josep Borrell hatte im presseöffentlichen Teil seines Treffens mit dem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow eine schlechte Figur abgegeben. Der Katalane war eigentlich nach Moskau geflogen, um Putin-Gegner Alexej Nawalny zu besuchen und Druck für dessen Freilassung zu machen. Stattdessen führte ihn der Gastgeber vor. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz erklärte Lawrow zum wiederholten Mal, es gebe keine Beweise für den Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker, nannte die EU einen unzuverlässigen Partner und diffamierte die – im Übrigen völlig berechtigten – Sanktionen der EU gegen Russland als „unilaterale illegitime Einschränkungen“. Borrell, der in Brüssel im Ruf steht, sich nicht sonderlich gut vorzubereiten, ließ das alles ohne sichtliche Gegenwehr über sich ergehen. Zu allem Überfluss wurde während der Pressekonferenz bekannt, dass Moskau drei Diplomaten aus EU-Ländern ausweist. Allein der Zeitpunkt, da die Ausweisungen bekannt wurden, stellt aus Sicht vieler Beobachter eine ungeheure Brüskierung des Gastes dar.
Zurück in Brüssel erntete Borrell einen Sturm der Kritik. Mehr als 70 Europa-Abgeordnete fordern seinen Rücktritt. Die belgische Abgeordnete Assita Kanko von den flämischen Nationalisten NVA sprach im Plenum der EU-Außenpolitik die Männlichkeit ab, wandte sich direkt an Borrell und wechselte dann mit dem für das EU-Parlament doch sehr ungewöhnlichen Satz ins Spanische: „Dónde están los cojones de la Unión Europea?“(„Wo sind die Eier der EU?“)
Mit der Schmach aus Moskau muss Borrell weitermachen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wies die Rücktrittsforderung zurück. Zu Recht: Es war Lawrow, der sich auf rücksichtslose Art präsentiert hat. Der russische Außenminister hat damit deutlich gemacht, was Moskau von der EU hält, nämlich gar nichts. Putin und seine Leute haben offenbar null Interesse daran, ein kooperatives Verhältnis mit der EU zu haben. Die Europäische Union ist dem Regime wohl unangenehm, weil sie dessen buchstäblich über Leichen gehende Machtpolitik kritisiert.
Damit hatte der Borrell-Besuch durchaus ein klärendes Moment. Man weiß in Brüssel nun noch besser, woran man ist in Moskau. Zugleich hat die Episode auf dem blumigen Sofa in Russland die strukturelle Schwäche der EU-Außenpolitik offengelegt. Die EU-Diplomatie zählt weltweit nicht viel. In einem außenpolitischen Umfeld, in dem klassische Großmachtpolitik von den USA, China und Russland betrieben wird, ist die EU kaum präsent.
Dies kann man beklagen. Man kann auch die EU-Kommission dafür kritisieren. Tatsache ist aber: Die Stimme der EU nach außen kann nur so stark sein, wie die 27 Mitgliedstaaten zulassen. Viele Mitgliedstaaten sind nicht bereit, Brüssel die Kompetenz zu geben. Sie ziehen es vor, eigenständig außenpolitisch zu agieren. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron pfeift auf eine Abstimmung mit seinen europäischen Partnern und macht eine von innenpolitischen Motiven getriebene Türkei-Politik. Auch Angela Merkel betreibt gegenüber Moskau und Peking eine Politik, die eigenständig ist und sich unterscheidet vom Kurs der EU.
All das zeigt: Es sind fromme Sonntagsreden gewesen, wenn von der Leyen zu Amtsantritt den Europäern eine geopolitische Kommission versprochen hat. Schon ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker wollte die EU zum „Global Player“machen. Doch die Realität sieht anders aus.