Mehr Euthanasie-Morde als bisher bekannt
Völklinger Aktionsbündnis recherchiert Schicksale, die noch nicht auf der vorläufigen Opfer-Liste des Landesarchivs stehen.
Das Landesarchiv hat eine „vorläufige Liste saarländischer Euthanasieopfer“erstellt (die SZ berichtete). 685 Opfer, die zweifelsfrei verifiziert wurden, sind dort nach Angaben des Archivs aufgeführt. „Bis heute fehlt eine für die Öffentlichkeit einsehbare Liste der saarländischen Euthanasieopfer, die größtenteils bis 1939 in der Heil- und Pflegeanstalt Merzig sowie im Landeskrankenhaus Homburg untergebracht waren. Mit der Liste wollen wir dazu beitragen, ein würdiges Gedenken zu ermöglichen und ihr Leid vor dem Vergessen zu bewahren“, steht auf der Internetseite des Landesarchivs. Es weist selbst darauf hin, dass diese Liste noch unvollständig ist.
Jetzt hat sich das Aktionsbündnis Stolpersteine in Völklingen an die SZ gewandt. Die Sprecherin Caroline Conrad erklärt, das Bündnis habe das Schicksal von drei weiteren Opfern recherchiert und dem Landesarchiv zur Verfügung gestellt. In dessen Liste stehen derzeit 34 Menschen, die in Völklingen geboren wurden oder dort gelebt haben. Conrad erklärt, ihre Schwester habe im Archiv der Gedenkstätte Hadamar recherchiert. In dieser Tötungsanstalt im heutigen Hessen sind Tausende Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen umgekommen.
Robert Müller und Alfred Köcher, beide aus Völklingen, waren weder in Merzig noch in Homburg. Das Aktionsbündnis hat Fotos der Sterbeurkunden und Krankenakten in Hadamar gemacht. Robert Müller wurde demnach am 21. Mai 1897 geboren. Das Aktionsbündnis beschreibt seine Leidensgeschichte so: Der Völklinger Bürgermeister veranlasste 1908, dass Robert Müller in einer Heilanstalt untergebracht werden sollte, weil er an „Idiotie“leide. Er kam in die evangelische Pflegeanstalt Hephata in Mönchengladbach, 1943 in eine weitere nach Scheuern, ehe er 1944 nach Hadamar verlegt wurde, wo er am 15. September starb. Als Todesursachen werden angegeben: „Angeblicher Schwachsinn, Grippe, Herzschwäche“.
Auch Alfred Köcher, geboren am 17. Februar 1928, kam über die Anstalten Mönchengladbach und Scheuern nach Hadamar, wo er 1943 ermordet wurde. Die Diagnose in Mönchengladbach: „Mongoloide Idiotie“. Diese „Zwischenanstalten“dienten dazu, zu verschleiern, wo sich die Menschen wirklich aufhielten. Das dritte Opfer, Maria Barbara Meyer, geboren am 26. Februar 1904, war nach Angaben des Aktionsbündnisses und des Hadamar-Archivs im Januar 1939 im Landeskrankenhaus Homburg, wurde aber am selben Tag nach Herborn überwiesen. Nach Zwischenstationen kam auch sie nach Hadamar und wurde dort 1944 getötet. Am 6. September wurde ein Telegramm an die Eltern geschickt: „Die oben Genannte ist heute in der hiesigen Anstalt verstorben.“Auf der Sterbeurkunde stehen als Todesursachen „Geisteskrankheit, Darmgrippe“.
Conrad erinnert auch an Fredi Wiedersporn. Über ihn hat das Adolf-Bender-Zentrum in St. Wendel den Film „Fredi Wiedersporn – Ein geraubtes Leben“gemacht, den Interessierte auf „Youtube“im Internet sehen können. Wiedersporn wurde in Stiring-Wendel geboren und ist in Völklingen aufgewachsen. Der Schularzt hatte gefordert, ihn wegen „Idiotie“in eine Anstalt einzuweisen. 1935 kam er in eine Anstalt in Hessen, Wiedersporn starb 1941 mit 17 Jahren. Eine Anstalt in Pirna-Sonnenstein in der Nähe von Dresden schrieb den Eltern, Fredi sei am 3. April 1941 gestorben. Doch es ist davon auszugehen, dass er in Hadamar getötet wurde. Denn ein größerer Transport aus der Anstalt Scheuern, wo Fredi zwischenzeitlich untergebracht war, kam Mitte März in Hadamar an, wie eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte in dem Film erklärt. 15 000 Menschen ermordeten die Nazis in Hadamar, darunter mindestens 445 Saarländer und 300 Kinder. Besonders viele kamen von Januar 1940 bis Ende August 1941 während der „Aktion T 4“um. Der Name rührte daher, dass die große Vernichtungsaktion während einer Konferenz in der Tiergartenstr. 4 in Berlin beschlossen wurde.
Das Landesarchiv versichert, dass mittlerweile viele Hinweise auf weitere Opfer eingegangen seien. Diese würden geprüft und die Liste aktualisiert.