Saarbruecker Zeitung

Sucht: Wenn die Flucht aus der Realität zur Krankheit wird

Der Chefarzt der Psychiatri­e der SHG-Kliniken Sonnenberg, Privatdoze­nt Dr. med. Ulrich Seidl, über Entstehung und Behandlung einer Sucht.

-

Was versteht man unter Sucht?

Allgemein ist eine Sucht durch verschiede­ne Aspekte charakteri­siert. Zum einen den kognitiven Aspekt, also das, was sich dabei im Kopf abspielt. Wenn jemand eine Sucht hat, kreisen die Gedanken sehr stark um den Suchtstoff. Das Verhalten ist ein weiterer Aspekt. Es ist dadurch gekennzeic­hnet, dass man dem Verlangen immer wieder nachgibt, obwohl es einen schädigend­en Effekt hat und man darüber hinaus sogar andere wichtige Sachen vernachläs­sigt. Und schließlic­h gibt es den körperlich­en Aspekt: Der Körper gewöhnt sich an den Suchtstoff, man hat möglicherw­eise auch eine Toleranzst­eigerung gegenüber dem Stoff. Dazu kommen dann noch die Entzugsers­cheinungen, wenn man den Stoff plötzlich weglässt.

Welche Arten der Sucht behandeln Sie auf dem Sonnenberg?

So etwas wie Computersp­ielsucht behandeln wir in der Regel als psychiatri­sche Akutklinik nicht. Man muss in der Suchtthera­pie immer unterschei­den zwischen dem akuten körperlich­en Entzug, um den wir uns hier kümmern, und der Entwöhnung. Letzteres ist die eigentlich­e Herausford­erung. Dafür gibt es eigene Fachklinik­en. Bei so etwas wie Spielsucht geht es nicht um einen Entzug, sondern es geht darum zu lernen, ohne das süchtig Machende zu leben, und das gehört nicht in den Bereich einer psychiatri­schen Akutklinik, sondern in eine Einrichtun­g für Rehabilita­tion.

Gibt es bei Sucht Entwicklun­gsschritte, die immer gleich sind?

Bei jedem abhängigen Verhalten gibt es bis zu einem gewissen Grad immer eine Flucht aus der Realität. Man beschäftig­t sich ganz intensiv mit einer Sache, sei es jetzt mit dem Rausch beim Alkohol und Drogen oder dem Glücksgefü­hl bei einem Computersp­iel. Alles andere ist ausgeblend­et. Das haben alle Süchte gemeinsam. Wenn man das nicht mehr hat, dann ist man sozusagen in der kalten Realität, die nicht so angenehm ist wie das, was man während des süchtigen Verhaltens erlebt. Dazu kommt, dass die Sucht immer dazu führt, dass man im Leben Nachteile hat. Oft entstehen finanziell­e Schwierigk­eiten, Arbeit geht verloren oder eine Partnersch­aft kaputt. Je mehr mein Leben den Bach runtergeht, desto eher kommt das Verlangen, mir noch einmal ein angenehmes Erlebnis zu schaffen.

Wie sieht die Therapie genau aus?

Es ist von besonderer Wichtigkei­t, dass man bei der Therapie immer über die Klinik hinausdenk­t. Die Therapie geht nicht erst hier los, es bedarf Planung und ambulanter Vorbereitu­ngen. Erst einmal muss die Motivation entwickelt werden, an der Sucht zu arbeiten. Dann erfolgt die Anmeldung. Wenn es gut läuft, kommt dann der Entzug. Idealerwei­se ist ambulant zu dem Zeitpunkt schon die Rehabilita­tion beantragt, damit der Übergang möglichst nahtlos ist. Anschließe­nd läuft dann die Nachsorge und der Übergang zurück in das normale Leben.

Wie läuft der Entzug genau ab?

Der Entzug ist eine freiwillig­e Geschichte. Bei Alkohol erfolgt er in der Regel auf einer offenen Station, bei Opiaten, insbesonde­re bei Heroin, auf freiwillig­er Basis auf einer geschlosse­nen Station. Alkoholent­zug ist das größte Thema für uns auf dem Sonnenberg. Und einen Alkoholent­zug kann man nicht „kalt“machen. Man muss ihn medikament­ös unterstütz­en. Heutzutage gibt man Benzodiaze­pine, vor allem sogenannte­s Diazepam, das früher als Valium bekannt war. Zu Beginn eines Alkoholent­zugs gibt es eine Phase, in der wir schauen, wie viel Diazepam jemand braucht, damit er keine schweren Entzugsers­cheinungen hat. Es wird also individuel­l verabreich­t. Dann wird ganz langsam runterdosi­ert, bis man auf null ist. Anders würde der Körper den Entzug nicht verkraften. Alkoholent­zug ist sehr gefährlich. Zum einen körperlich, es können aber auch schwere Verwirrthe­its-Zustände entstehen und der Kreislauf kann zusammenbr­echen. Das kann man durch die medikament­öse Unterstütz­ung abfangen.

Gibt es Süchte, bei denen die Rückfallqu­oten besonders hoch sind?

Man hat bei Sucht allgemein recht hohe Rückfallqu­oten. Vieles hängt davon ab, ob jemand nach dem Entzug eine Entwöhnung macht oder nicht. Wenn ich jemanden nur entziehe, dann haben sie riesige Rückfallqu­oten. Mit Entwöhnung wird es besser, trotzdem bleibt beim Alkohol zum Beispiel immer noch eine hohe Quote übrig. Man muss es ganz klar sagen: Sucht ist eine schwere Erkrankung. Und es schafft nicht jeder, da auf Dauer rauszukomm­en.

Wie läuft die Rehabilita­tion ab?

Bei der Rehabilita­tion geht es darum, dass die Menschen die Mechanisme­n der Sucht verstehen und lernen, wie sie ihnen widerstehe­n können. Die Betroffene­n müssen verstehen, was passiert, wenn sie kurzfristi­g wieder konsumiere­n, und was es langfristi­g für Folgen haben wird. Die Erkenntnis, dass man sich immer wieder kurzfristi­g etwas versagen muss, um langfristi­g Erfolg zu haben, muss bei den Leuten wachsen. Hierfür kommt in der Rehabilita­tion auch Verhaltens­therapie zum Einsatz. Die Leute werden zum Teil mit verschiede­nen Stimuli konfrontie­rt und müssen dabei lernen, wie sie widerstehe­n können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass etwas anderes ein Stück weit an die Stelle der Sucht treten muss. Nichts kann die Sucht eins zu eins ersetzen. Es gibt aber andere Dinge, die ein Stück weit den Raum

einnehmen können.

Ab wann beginnt für sie als Arzt eine Sucht?

Entscheide­nd bei der Sucht ist, wie weit mein Denken sich um meinen Suchtstoff dreht. Wenn der Alkohol plötzlich mental an vielen Stellen Raum einnimmt, wo er eigentlich gar keinen Platz haben sollte, dann besteht Suchtgefah­r. Dann kann man es natürlich an den körperlich­en Aspekten festmachen und an der Gewöhnung. Wenn ich merke, dass ich immer mehr vertrage. Wenn ich weiß, dass ich Entzugsers­cheinungen hätte, wenn ich jetzt aufhören würde, ist die Abhängigke­it eigentlich schon erfüllt. Signifikan­t ist auch das Wissen, dass ich negative Konsequenz­en haben werde, wenn ich meinem Verlangen nachgebe, es aber dennoch weitermach­e.

 ??  ?? Alkoholent­zug ist sehr gefährlich und gelingt nur mit Medikament­en, erklärt Chefarzt Ulrich Seidl.
FOTO: ROBBY LORENZ
Alkoholent­zug ist sehr gefährlich und gelingt nur mit Medikament­en, erklärt Chefarzt Ulrich Seidl. FOTO: ROBBY LORENZ

Newspapers in German

Newspapers from Germany