Im Zickzack durch die Corona-Krise
Der Soziologe Reinhard Stockmann von der Saar-Uni sieht das Vertrauen in die politischen Maßnahmen gegen Corona schwinden. Er fordert, sie umfänglich zu evaluieren.
VON MARKUS RENZ
An was es in der Corona-Krise fehlt, ist dem Soziologie-Professor Reinhard Stockmann kurz nach Auftreten des Virus klargeworden. Deutschland ging in den Lockdown, die Läden schlossen, die Kultur knickte unter den Auflagen ein und nur das Notwendigste blieb – einschränkenden Regeln unterworfen – verschont. Und dann? Die Wochen verstrichen, das Virus blieb und die Politik blieb bei ihren Parolen: Durchhalten. Verlängern, es braucht noch Zeit. Ausharren – und dann? Wieder Lockdown. Wieder politische Durchhalte-Parolen. Und immer noch keine Langzeitstrategie.
„Die Coronakrise wird zu einseitig betrachtet“, sagt Stockmann, der das Centrum für Evaluation Ceval der Saar-Uni leitet. Stockmann erklärt, dass Politiker zwar von Medizinern, Virologen und Immunologen bestens beraten seien „dennoch müssen auch andere Faktoren in die Betrachtung einfließen. Vor allem der gesellschaftliche Faktor“, meint der Soziologieprofessor.
An jedem weiteren Krisentag gebe es Meldungen von Unternehmen und Menschen, für die ein Aushalten keine Möglichkeit mehr ist. Die auf Novemberhilfen hofften und im Februar noch immer hoffen müssen. „Mit Durchhalte-Parolen ist nicht mehr“, sagt Stockmann und meint: „Wenn sie mich fragen, ist bei vielen Menschen Vertrauen verloren gegangen.“
Stockmann spricht vom Vertrauen in Vater Staat und Mutter Europäische Union. Da helfe es wenig, dass mit Ursula von der Leyen eine ehemalige Familienministerin die Kommission führt. Die Familie EU sei mit der Impfstoffbeschaffung gescheitert. „Von Anfang an hätten Impfstoffe in großer Menge aufgekauft werden müssen. Übrigen Impfstoff hätte man dann umverteilen können.“
Auch in Deutschland sei vieles aus dem Ruder gelaufen. „Die Maßnahmen sind richtig und wichtig, aber sie strapazieren die Geduld der Bürger und verlangen viel Disziplin ab“, sagt Stockmann. Er stört sich daran, dass die deutsche Politik ihre Maßnahmen nicht gezielt auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Unumwunden gibt der Professor zu, dass er insoweit ja „vorbelastet“sei, schließlich ist er Experte für Evaluation.
Denn genau das macht Evaluation: Vergleichen und verdeutlichen, was wie und wie gut wirkt – und warum. Nicht nur aus der Betrachtung des Abgeschlossenen lassen sich Erkenntnisse gewinnen, auch im Vorhinein oder begleitend zum Geschehen ist das möglich. Zugleich ist die Vielschichtigkeit eine der Stärken der Evaluation. Sie kann Kontext, Prozess, Struktur und Ergebnisse in die Betrachtung miteinbeziehen. Werden diese Faktoren in Abhängigkeit betrachtet, ergibt sich ein Gesamtbild des Untersuchten.
„Hätte man in Deutschland gleich zu Beginn der Corona-Krise Hygienemaßnahmen auf ihre Wirksamkeit untersucht, hätte ein vollständiger Lockdown vermieden werden können“, sagt Stockmann und legt gleich ein Beispiel auf. „Nehmen wir etwa die Altenheime. Bundesweit unterschieden sich die Infizierungen in Heimen stark, von 30 Prozent bis 90 Prozent betroffener Bewohner war da fast alles dabei. Da hätte man hinschauen müssen: Warum hat das Hygienekonzept in Heim A so viel besser gewirkt als in Heim B? Sind die Bewohner sich ein Risiko oder ist es der Kontakt zu den Pflegenden oder den Angehörigen?“
Statt ihre Maßnahmen zu evaluieren, zu vergleichen und auf ihre Wirksamkeit zu prüfen, antwortete die deutsche Politik immer gleich: Shutdown. Heime zu, Familien getrennt und fortwährende Unsicherheit, was im Kleinen helfen kann. Uni-Professor Stockmann sieht im Kleinen große Probleme entstehen: „Keiner weiß, wie lange die Virus-Misere anhält. Und je erfolgreicher die Abschottung, desto größer der Druck, die Maßnahmen zu lockern. Und dann stehen wir womöglich wieder am Anfang.“
Er empfindet, dass über die Jahre vor allem politische Macht umverteilt worden ist – hin zur EU –, aber nicht gewinnbringend eingesetzt worden ist: „Ich bin enttäuscht, die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht.“Ethisches Versagen sieht der Professor für Evaluation im Impfstoff-Debakel nicht: „Unethisch hat die EU keineswegs gehandelt. Sie hat ökonomisch versagt“, erklärt Stockmann. „Man hat anderen Ländern wie den USA oder Großbritannien den Markt überlassen.“Brasiliens Bolsonaro, Ex-Twitter-Trump und Chinas Xi, der die Krise zunächst kleinredet, dann aufs Ausland schiebt und letztlich den Sieg des überlegenen Einparteiensystems darüber erklärt.
Statt Maßnahmen zu
evaluieren, antwortet die Politik immer gleich:
Shutdown.
Alles buhlt um Vertrauen und hält vermeintliche Strategien bereit.
Stockmann bewertet es nüchtern: „In Deutschland ist das Vertrauen in die Politik grundsätzlich groß, deshalb haben Evaluationen hier womöglich einen geringeren Stellenwert. In den USA und vielen weiteren Ländern ist das anders. Dort werden politische Maßnahmen stets auf ihre Wirksamkeit untersucht.“Bleibt in Deutschland die Glanzzeit der Evaluation also verwehrt? Stockmann jedenfalls geht am 30. März in Pension. Der Soziologe lacht und sagt dann in ernstem Ton: „Den einzigen Masterstudiengang zur Evaluation in Deutschland gibt es wie bisher jedenfalls nicht mehr. Den hatte ich 20 Jahre lang an der Saar-Uni betreut. Trotzdem könnte die Politik in der Krise die Wichtigkeit von Evaluationen schätzen lernen. Alles eine Frage der Perspektive.“