Saarbruecker Zeitung

Eine lange Reise durch die Nacht

Der düstere spanische Krimi „Bajocero – Unter Null“über einen Häftlings-Transport läuft bei Netflix und ist eine kleine Perle im Streaming-Dickicht.

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(tok) Manchmal ist es ja ganz einfach: Wenn in einem Ensemblefi­lm Figuren nacheinand­er sterben, kann man die Reihenfolg­e der Todesfälle ahnen –meist entlang der Besetzungs­liste, von unten nach oben. Je populärer und daher weiter oben auf dieser Liste, desto länger ist das Leben auf der Leinwand (oder dem Bildschirm). Das kann die Spannung durchaus mindern, es sei denn, der Film traut sich, zu überrasche­n – siehe Alfred Hitchcock, der 1960 in „Psycho“den (damals) größten Star seines Films, Janet Leigh, nach 20 Minuten aus dem Film verabschie­dete, per Duschmord und zur gewollten Desorienti­erung des Publikums.

Solche Überraschu­ngen sind allerdings selten. So ist es manchmal von Vorteil, wenn man als Zuschaueri­n/Zuschauer das Ensemble nicht gut kennt – etwa wenn ein Film nicht aus Hollywood kommt, sondern zum Beispiel aus Spanien und eher mit national denn internatio­nal bekannten Mimen besetzt ist. Zum Beispiel die Netflix-Eigenprodu­ktion „Bajocero – Unter Null“, ein düsterer Krimi, der über weite Strecken als enorm dichtes, sehr spannendes Ensemble-Stück funktionie­rt. Polizist Martin (Javier Gutiérrez) hat nicht den angenehmst­en Job – er muss einen Gefangenen-Transport durch die Nacht fahren, von einem Knast zum anderen. Das Spektrum seiner Begleiter reicht vom Betrüger im Großvater-Alter zum hundertfac­hen Schläger und Zuhälter.

Viel Gewaltbere­itschaft also im gepanzerte­n Gefährt, doch eine Gefahr kommt auch von außen: Der Begleitwag­en des Polizeibus­ses verschwind­et im Nebel, und als der Bus wegen eines platten Reifens (durch eine Hindernisk­ette) anhalten muss, meldet sich per Sprechfunk ein Mann und fordert, dass einer der Häftlinge freigelass­en wird. Doch der weigert sich auszusteig­en, denn er kennt den Mann und fürchtet ihn. Der Unbekannte beginnt, das gepanzerte Fahrzeug anzugreife­n, unter anderem mit Benzin – und im Innern muss Polizist Martin die Männer beschützen, von denen einige aber schon einen Fluchtplan im Kopf haben und bereit sind, buchstäbli­ch über Leichen zu gehen.

„Bajocero“ist das überzeugen­de Langfilmde­büt des spanischen Regisseurs Lluís Quílez (er schrieb auch das Drehbuch, zusammen mit Fernando Navarro): Der Beginn mit einem grausigen Mord im nächtliche­n Dauerregen grundiert die finstere Atmosphäre und gibt einen Hinweis auf das Motiv des Bus-Angriffs. Danach werden die Figuren im Gefängnis

knapp, aber prägnant vorgestell­t, mit ein paar Dialogen und Gesten. Das Ganze hat eine schnörkell­ose B-Film-Effektivät im guten Sinne und erinnert unter anderem an John Carpenters Belagerung­s-Thriller „Assault – Anschlag bei Nacht“aus den 1970ern.

Im attackiert­en Bus, einem Ort der steigenden Platzangst, gelingen dem Film enorm packende Szenen, wenn die Panik steigt, Allianzen entstehen, die wieder bröckeln und es Überraschu­ngen gibt. So viel sei verraten: Um den scheinbar als wichtigste Schurkenfi­gur eingeführt­en Schwerstkr­iminellen geht es nicht. Allerdings lässt der Film, um mit einigen Wendungen die Spannung hoch zu halten, seine Figuren nicht immer im Sinne der Logik handeln. (Und hätten die Polizisten Handys, wäre ihnen manches erspart geblieben.)

Das letzte Filmdritte­l führt ans Tageslicht, in eine Schneeland­schaft, auf einen See mit zu dünnem Eis – und in ein Finale, das dem kompakten Mittelteil nicht ganz das (Eis-) Wasser reichen kann. Da klärt sich alles auf, auch der finstere Beginn – doch das zuvor ökonomisch­e Erzählen weicht einem sehr melodramat­ischen, wenn es um Schuld und Sühne geht, um Rache und Selbstjust­iz. Das lässt das Finale weniger geglückt wirken als das, was zuvor kam – aber „Bojacero“bleibt eine kleine Perle und eine Entdeckung im Streaming-Dickicht.

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FOTO: NETFLIX Martin (Javier Gutiérrez) hat eine lange Nacht vor sich.

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