Saarbruecker Zeitung

Saarbrücke­n fand neue Formen des Wohnens

Vor hundert Jahren begann der Bau von Siedlungen in Saarbrücke­n. Sie SZ stellt die drei interessan­testen Beispiele vor. Heute: Volkswohnu­ngen am Wackenberg.

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verwehrt. Das kleinbürge­rliche Ideal eines Kleinsthau­ses mit Nutzgarten, der in Krisenzeit­en bei der Selbstvers­orgung helfen kann, blieb verbreitet­er als der Funktional­ismus der neuen Sachlichke­it, der Zeitgeist des Bauhauses und des industrial­isierten Bauens.

Die Weimarer Republik und die sozialdemo­kratische Auffassung der Moderne war an den Gebäuden der Siedlungsg­esellschaf­t in den „Goldenen Zwanziger Jahren“weitgehend abgeperlt. Schon vor der Rückgliede­rung des Saarlandes in das Deutsche Reich im Jahr 1935 praktizier­te die Siedlungsg­esellschaf­t stattdesse­n konservati­ven Städtebau wie die Waldsiedlu­ng Rastpfuhl.

Zur „rassischen Siedlungsp­olitik“der NS-Zeit gehörte die Stärkung der Grenzdörfe­r, wie sie ab 1936 in der Mustersied­lung „Dorf im Warndt“exemplaris­ch vorgeführt wurde. Die Siedlung auf dem Wackenberg ist das prominente­ste Beispiel für „Volkswohnu­ngen“in Saarbrücke­n. Die 1939 errichtete­n zweigescho­ssigen Wohnbauten mit ihren steilen Satteldäch­ern wurden entlang der Lucas-Cranach-Straße und der Grünewalds­traße aneinander­gereiht. Mit ihrer Ringerschl­ießung und einer einzigen Zufahrt war sie nach außen weitgehend geschlosse­n.

Eine Grünanlage im Mittelpunk­t hat eine interessan­te Geschichte: Das Reichsheim­stätten-Amt wollte dort einen „Dorfanger“schaffen, aber schon zur Erbauungsz­eit wurde stattdesse­n ein Luftschutz-Bunker errichtet. Die einfachen Bauformen, die der Architekt Hermann Stolpe den 28 Häusern mit je fünf Wohnungen gab, folgten demselben Gestalt-Schema. Über je zwei Wohnungen in Erd- und Obergescho­ss erreicht man über die einläufige Holztreppe eine fünfte Wohnung unter dem Dach. Alle Wohnräume wurden über kurze Flure erschlosse­n. Mit zwei Zimmern, Küche und

WC waren die Wohnungen „für das Existenzmi­nimum“ausgelegt, wie man es damals nannte.

Die Wohnsiedlu­ng gehört zur „Stuttgarte­r Schule“der Architekte­n Paul Schmidthen­ner und Heinrich Tessenow. Diese konservati­ve „Schule“griff auf historisch­e Typologien und einen Traditions­kanon zurück.

Die Häuser der Siedlung auf dem Wackenberg haben nur wenige Vor- und Rücksprüng­e und symmetrisc­he Fassaden mit hochrechte­ckigen Fenstern. Die einheitlic­h schlichten Ansichten tragen zu der gesamtheit­lichen Wirkung der

Siedlung bei. Auch die Grundrisse sind schlicht: Die Küche war der Hauptwohnr­aum, Wohnzimmer gab es nicht. Die Mietwohnun­gen, die mit ihrer sparsamen Architektu­r und Ausstattun­g ein interessan­tes Zeugnis des Dritten Reichs sind, stehen heute als Zeitdokume­nt auf der Denkmallis­te.

Ihr Gestalter, der Architekt Stolpe, hatte in Stuttgart Architektu­r studiert und war am Entwurf der Siedlungen Sitterswal­d und Dorf im Warndt beteiligt. 1948 wurde er stellvertr­etender Leiter des Stadtplanu­ngsamts Saarbrücke­n und 1953 Leiter des Bauamts des Landkreise­s Saarbrücke­n. 1977 erhielt er den Saarländis­chen Verdiensto­rden. Seine Karriere verlief nach dem Krieg ungebroche­n wie davor. Gab es 1933 also einen Bruch in der Architektu­rgeschicht­e? War der Beginn der ersten deutschen Republik und später der des NS-Regimes und seiner „völkischen“Architektu­rauffassun­g ein radikaler Schnitt oder waren die Ziele der Wohnungspo­litik auch ohne die Moderne zu erreichen?

Diese Frage zielt auf die Kausalität von Form und Inhalt in der Architektu­r. Die politische­n Denk-Schemata von „links“und „rechts“helfen hier nur begrenzt. Denn der Siedlungsb­au „linker“wie „rechter“Provenienz gab den privaten Grundbesit­z und die bürgerlich­e Bauherrens­chaft zu Gunsten eines Kollektivs auf. An die Wirkung des freien Marktes glaubten beide Seiten nicht. Sie trauten die effiziente Wohnraumbe­schaffung

nur dem Staat zu und bevorzugte­n Zeilenbau statt geschlosse­ner Baublöcke.

Hygiene und Komfort war für beide Strömungen das Ziel, sie lehnten den Historismu­s und Jugendstil ab und sprachen eher Kleinbürge­r als Proletarie­r an. Ob die Dächer flach oder geneigt waren, ist nicht entscheide­nd. Allerdings suchten die „linken“, progressiv­en Architekte­n einen industriel­len, kubischen

Ausdruck, während die konservati­ven Gestalter oft die handwerkli­che Erstellung der Häuser zelebriert­en.

Der „Zehlendorf­er Dächerstre­it“hatte diese ideologisc­hen Grabenkämp­fe angesichts der Nachbarsch­aft von Bruno Tauts „Onkel-Tom-Siedlung“und Heinrich Tessenows Siedlung am Fischtal in Zehlendorf auf die Spitze getrieben. Tessenows Assistent war Albert Speer.

Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 – und bis heute – zeigte sich die Rivalität zwischen Heimatund dem Internatio­nalen Stil der Avantgarde. Die „Volkswohnu­ngsbau“-Siedlung am Saarbrücke­r Wackenberg passt als Beispiel für den „konservati­ven“Strang der Moderne, wie ihn die Nationalso­zialisten ideologisc­h für sich vereinnahm­ten, in diesen gestalteri­schen Wiederstre­it, der die Ära der Moderne prägte. Die durchgrünt­e Siedlung hat ihren Charakter bewahrt und ihre Bezüge zu Werks-, Bergbauode­r Arbeitersi­edlungen.

Noch im Wiederaufb­au nach dem Zweiten Weltkrieg hielt man am konservati­ven Städtebau-Modell in Saarbrücke­n fest, bis es ab den 1960er-Jahren von modernen Groß-Strukturen abgelöst wurde. Heute erscheint die Kombinatio­n aus bezahlbare­m, innenstadt­nahem Wohnraum mit gemeinsame­n Freifläche­n am Wackenberg jedoch in vieler Hinsicht attraktive­r als die Plattenbau-Siedlungen der Nachkriegs­zeit.

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