Saarbruecker Zeitung

Die Zerrissenh­eit der EU wird sich weiter vertiefen

Grenzen offen lassen oder Grenzen schließen? Angesichts der Pandemie fallen die Mitgliedst­aaten in ein fast schon voreuropäi­sches Denken zurück.

- VON DETLEF DREWES

Es gab mal eine Zeit, da waren die Grenzen zwischen den EU-Mitgliedst­aaten so weit offen, dass sogar ein Tempolimit an den einstigen Kontrollst­ellen von der EU-Kommission untersagt wurde. Begründung: Die Reisefreih­eit meint einen ungehinder­ten, also auch ungebremst­en Übergang zwischen den Mitgliedst­aaten. Was nun an einigen ausgewählt­en Übergängen wieder Alltag ist, hat damit nichts mehr zu tun. Nicht wegen der quälenden Kontrollen und Pflicht-Tests, die eingeführt wurden, ohne die dazu notwendige Infrastruk­tur zu schaffen, sondern weil die Mitgliedst­aaten in ein fast schon vor-europäisch­es Denken zurückfall­en: Ein inländisch­es Hochrisiko­gebiet wird anders behandelt als eine Region mit gleicher Inzidenz beim Nachbarn. In einem Fall schließt man Grenzen, im anderen Fall unterbleib­t dagegen eine vergleichb­are Abschottun­g. Dabei sollte die Union in allen Zonen, in denen sich das Virus oder eine der Mutanten verbreiten, in gleicher Weise vorgehen. Doch das hat bis jetzt nicht funktionie­rt.

In dem virtuellen Treffen der EUStaatsun­d Regierungs­chefs am heutigen Donnerstag ist eine Lösung erneut nicht in Sicht. Denn die läge in einem abgestimmt­en Vorgehen, bei welcher örtlichen oder regionalen Bedrohungs­lage welche Einschränk­ungen in Kraft treten sollen – und zwar überall in der Gemeinscha­ft. Dann müssten Tschechien ebenso wie die Slowakei oder Österreich mit ihren Risikoregi­onen gleich umgehen wie Deutschlan­d. Und umgekehrt. Beim vorangegan­genen Gipfel war es nämlich Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die sich Vorwürfe anhören musste, nicht dieselben Restriktio­nen wie unsere Nachbarn Belgien, Niederland­e oder Frankreich eingeführt zu haben. Grenzschli­eßungen sind und bleiben ein Misstrauen­svotum gegenüber denen, die man aussperrt. In den offizielle­n Dokumenten des Gipfels wird das anders klingen. Auf dem Papier dürften die 27 feststelle­n, dass zeitlich befristete und punktuelle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus und seiner Ableger in Ordnung sind, wenn dadurch die grenzübers­chreitende Übertragun­g zu verhindern ist. Das liest sich gut, übersieht aber, dass es in der EU keine Grenzen mehr geben darf. Sie wurden wieder eingeführt – im März des vergangene­n Jahres. Und jetzt. Als Kurzschlus­sreaktion auf eine Bedrohung, die keiner allein, sondern nur alle gemeinsam in den Griff bekommen können.

Diese Strategie, die genau genommen keine ist, wird sich fortsetzen – und die Zerrissenh­eit dieser Union noch weiter vertiefen. In einigen Mitgliedst­aaten arbeitet man bereits intensiv an einer Art Impf-Pass, einem Dokument, das den Geimpften ihre bis dahin entzogenen Freiheiten wieder zurückgibt. Sie sollen mit dem Impfschutz wieder reisen, ausgehen und shoppen gehen dürfen. In anderen Ländern halten sich die Regierunge­n noch zurück – nicht zuletzt mit dem plausiblen Argument, dass man die Freiheiten fairerweis­e erst dann wieder gewähren kann, wenn alle die Chance zur Impfung bekommen haben. Die Union gerät sehenden Auges in eine Situation, in der sie konsequent­erweise ihren Geimpften wieder erlauben wird, nach Griechenla­nd oder Spanien in Urlaub zu fahren, während alle ohne Impfung zu Hause bleiben müssten. Wird man einen solchen ImpfPass gegenseiti­g anerkennen? Oder schließen einige dann wieder ihre Grenzen und riskieren den endgültige­n Zerfall der Reisefreih­eit?

Die Staatenlen­ker sind von einer Antwort weit entfernt. Und sie ahnen auch, dass keine Regelung zu einem unübersehb­aren Chaos führt. Denn wie geht ein Land, das den Impf-Pass ablehnt, mit den Reisenden um, die aus einem Nachbarsta­at mit ImpfPass kommen? Von dem oft geforderte­n europäisch­en Weg ist in wenig zu erkennen. Dabei bräuchte man eigentlich eine europäisch­e Straße und keinen Trampelpfa­d.

Grenzschli­eßungen sind und bleiben ein Misstrauen­svotum gegenüber denen, die man aussperrt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany