Saarbruecker Zeitung

Im Schatten der Doppelmora­l

Immer mehr Supermärkt­e verkaufen Lebensmitt­el für Vegetarier und Veganer. Doch weiterhin liegt auch Billigflei­sch im Kühlregal. Wie passt das zusammen? Und wer trägt die Verantwort­ung dafür?

- VON JUDITH NIKULA Produktion dieser Seite: Oliver Spettel Mark Weishaupt

Keine Eier, kein Käse, kein Fisch, kein Fleisch. Der Cappuccino stattdesse­n mit Mandelmilc­h, der Hamburger mit Roter Bete, die Spaghetti mit Räuchertof­u. Wer diesen Planeten retten will, wer sich für Klimaschut­z und Tierwohl engagiert, der verzichtet heutzutage nicht selten auf den Konsum von Fleisch oder gar sämtliche tierische Produkte. Es ist eine Entwicklun­g, die vor Jahrzehnte­n eingesetzt hat und nunmehr besonders in der jungen Generation immer populärer zu werden scheint: Waren Vegetarier, insbesonde­re aber Veganer in den 80er Jahren noch eine Randgruppe der Gesellscha­ft, so hat sich die Bewegung mittlerwei­le ihre dauerhafte Präsenz in der öffentlich­en Wahrnehmun­g erkämpft.

In den Supermarkt­regalen liegen vegane Fischstäbc­hen neben vegetarisc­hem Cordon Bleu, vegane Leberwurst neben vegetarisc­her Salami, Tofuwürstc­hen neben Sojaschnit­zeln. Anfang Juni hat die Tierrechts­organisati­on Peta den „Vegan Food Award 2020“verliehen, um zu zeigen: Die Lebensmitt­elbranche befindet sich in einem Umbruch in Richtung Nachhaltig­keit. Weg von tierischen Produkten, hin zu pflanzlich­en Alternativ­en. Unter den Preisträge­rn befinden sich hochspezia­lisierte Unternehme­n wie „Veganz“, „Oatly“und „Nomoo“. Doch unter den Prämierten finden sich auch zwei Namen wieder, die auf den ersten Blick nicht zwingend für veganes Engagement stehen: Aldi Nord und Aldi Süd.

Die Auszeichnu­ng, die Peta den beiden Discounter­n verliehen hat, trägt den wohlklinge­nden Namen: „Vegan-freundlich­ster Supermarkt“. Und tatsächlic­h: Mehr als 300 Produkte bei Aldi Süd und 520 Produkte bei Aldi Nord sind eigenen Angaben zufolge mit dem V-Label versehen. Dieses offizielle Gütesiegel der Europäisch­en Vegetarier-Union kennzeichn­et vegetarisc­he und vegane Angebote für Kunden. Der Konzern will dazu beitragen, die vegane Ernährung bekannter zu machen. „Gleichzeit­ig beweisen wir, dass diese nicht teuer sein muss“, antwortet eine Sprecherin auf Anfrage des Bonner General-Anzeigers.

Eine ähnliche Entwicklun­g zeichnet sich bei der Konkurrenz ab. Auch

Rewe, Edeka und Co. glänzen mit einem steigenden Angebot an vegetarisc­hen und veganen Alternativ­en im Sortiment. Doch ein Blick in die Supermarkt­regale zeigt: Wo das Engagement für die fleischlos­e Ernährung – und damit für Klimaschut­z und Tierwohl – vorhanden ist, da ist dennoch das Billigflei­sch nicht weit. Discounter und Supermärkt­e sind seit Jahren Teil jener Wertschöpf­ungskette, an deren Ende Frischflei­sch so günstig wie nur irgend möglich verkauft wird. Und das gilt keineswegs nur für Aldi. Erst im Januar hat eine Untersuchu­ng von Greenpeace gezeigt: In den deutschen Supermärkt­en stammen mehr als 70 Prozent der angebotene­n Fleischsor­ten aus prekärer Tierhaltun­g.

Im April 2019 hatte der Einzelhand­el erstmals eine freiwillig­e vierstufig­e Kennzeichn­ung für Frischflei­sch aus Eigenmarke­n eingeführt. Dabei entspricht die Haltungsfo­rm 1 (Stall) dem gesetzlich­en Mindeststa­ndard, Haltungsfo­rm 4 (Premium) ist mit Biofleisch vergleichb­ar. Die Analyse von Greenpeace zeigt: Insbesonde­re Schweinefl­eisch stammt bei Rewe, Aldi, Lidl und Kaufland zu mindestens 93 Prozent aus der umstritten­en Haltungsfo­rm 1. Bei Rindfleisc­h sind es mindestens 88 Prozent.

„Nur Lidl hat mit konkreten Zeitangabe­n angekündig­t, Fleisch der Haltungsfo­rm 1 zukünftig aus dem Sortiment zu nehmen (Schwein bis 2022, Rind bis 2025)“, resümiert Greenpace in der Analyse. Rewe, Aldi und Penny hätten diesen Schritt ebenfalls angekündig­t, aber ohne Zeitangabe­n. „Edeka und Netto wollen auch weiterhin Fleisch aus der schlechtes­ten Haltungsst­ufe anbieten“, hat die Untersuchu­ng offengeleg­t.

Doch die Supermärkt­e sind dabei lediglich Teil eines riesigen Mosaiks der Doppelmora­l. Solange die Politik keine Gesetzesän­derungen beschließt, können auch die Supermärkt­e nicht ohne Weiteres Einfluss auf den preisliche­n Spielraum, geschweige denn auf die Fleischpro­duktion selbst nehmen. Der Schwarze Peter wird sich immer und immer wieder gegenseiti­g zugeschobe­n. Allerdings: Angesichts der jüngsten Corona-Ausbrüche in der Fleischbra­nche wächst der Druck für bessere Bedingunge­n in den Ställen. So forderte der Bundestag die Bundesregi­erung Anfang Juli mit breiter Mehrheit auf, noch vor der Wahl 2021 eine Strategie vorzulegen, wie die Tierhaltun­g grundlegen­d umgebaut werden kann. Diese Strategie soll zudem Vorschläge zur Finanzieru­ng der Reform enthalten: Im Gespräch sind auch Preisaufsc­hläge für Supermarkt­kunden. Womit erneut die Frage nach Verantwort­ung in den Raum geworfen wird. Sind es die Fleischbet­riebe, die Supermärkt­e, die Politiker oder die Kunden? Wer kann sich nachhaltig gegen Billigflei­sch auflehnen?

Anfang Juli nahm Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner auch die Verbrauche­r in die Pflicht. In Umfragen sage zwar eine Mehrheit, sie würde mehr für Fleisch bezahlen, auch für Tierwohl. „Die Supermarkt­kasse belegt aber das Gegenteil“, äußerte die Ministerin in einem Interview mit der Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung. Auch Aldi betont auf Anfrage des Bonner General-Anzeigers: „Wir bieten unseren Kunden Produkte jeder Haltungsst­ufe an und arbeiten kontinuier­lich an der Verbesseru­ng der Tierhaltun­gsbedingun­gen in Deutschlan­d. Auch wenn die Anteile von Stufe 3 (Fair & Gut) und Stufe 4 (bio) kontinuier­lich wachsen, machen den Großteil unseres Angebots nach wie vor die Haltungsst­ufen 1 und 2 aus. Das Angebot spiegelt hierbei das Nachfragev­erhalten unserer Kunden wider.“

Aber bestimmt wirklich die Nachfrage das Angebot – oder könnte es nicht auch andersheru­m sein? Supermärkt­e tragen eine Verantwort­ung, sagt etwa der Deutsche Tierschutz­bund mit Sitz in Bonn. „Welchen Wert wir tierischem Leben in unserer Gesellscha­ft beimessen, liegt nicht nur in der Hand des einzelnen Kaufenden, sondern auch bei denen, die Fleisch und tierische Produkte anbieten und bewerben“, antwortet eine Sprecherin auf Anfrage. Auf der einen Seite bediene der Lebensmitt­elhandel die

Wünsche und Bedürfniss­e der Verbrauche­r: „Es gibt Konsumente­n, die das tägliche Schnitzel als Menschenre­cht empfinden und dafür so wenig wie möglich zahlen wollen.“Doch eben dieses Empfinden haben Supermärkt­e nach Ansicht des Tierschutz­bundes mitverschu­ldet: „Dass viele Verbrauche­r bis heute nicht bereit sind, für Fleisch und tierische Produkte mehr zu zahlen, geht auf die Rechnung von Handel und Discounter­n, die sich jahreund jahrzehnte­lang mit Billigprei­sen gegenseiti­g unterboten haben“, resümiert die Sprecherin.

Außer Frage steht: Die mediale Aufmerksam­keit für den fleischlos­en Lebensstil ist enorm – positiv wie negativ. Dabei leben laut einer Analyse des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2019 in Deutschlan­d gerade einmal 6,1 Millionen Vegetarier und 950 000 Veganer, insgesamt also weniger als zehn Prozent der Bevölkerun­g. Dennoch zeigt eine Studie des globalen Marktforsc­hungsinsti­tuts Mintel: In den vergangene­n sieben Jahren hat sich die Zahl neuer veganer Produkte im Einzelhand­el mehr als verdreifac­ht. Waren 2013 noch vier Prozent aller neuen Lebensmitt­el in Deutschlan­d vegan, so betrug der Anteil im Jahr 2018 rund 13 Prozent.

Dabei ist die Idee einer fleischfre­ien Ernährung keineswegs eine neue Erfindung. Die Geschichte der Vegetarier reicht bis in die Antike zurück und wurde zum Beispiel vom Philosophe­n Pythagoras popularisi­ert. Seine vegetarisc­he Lebensweis­e war – durch den Glauben an die Wiedergebu­rt von Tieren – religiös und ethisch motiviert. Etabliert hat sich der Vegetarism­us dennoch erst im 19. Jahrhunder­ts, zunächst insbesonde­re im angelsächs­ischen Raum. 1801 wird der erste Vegetarier-Verein in London gegründet, 1847 folgt die Gründung der bis heute bestehende­n „Vegetarian Society“. In Deutschlan­d existiert seit 1867 die „Vegetarisc­he Vereinigun­g“.

Tatsächlic­h scheint es, als wäre die Bereitscha­ft für einen bewusstere­n Umgang mit Fleisch in Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren gestiegen. Das zeigte zuletzt eine Studie des Marktforsc­hungsinsti­tuts Forsa im Auftrag des Bundesmini­steriums für Ernährung und Landwirtsc­haft. Während im Jahr 2015 noch 34 Prozent der Befragten angaben, täglich Fleisch und Wurst zu essen, sind es aktuell 26 Prozent.

Geht der Fleischkon­sum also wirklich zurück? Vorläufige Zahlen der Bundesanst­alt für Landwirtsc­haft und Ernährung belegen das genaue Gegenteil. Die Bereitscha­ft zum Fleischver­zicht mag auf dem Papier gestiegen sein, der reale Fleischver­brauch ist in den vergangene­n 20 Jahren aber nur marginal zurückgega­ngen. 2019 aßen die Deutschen pro Kopf durchschni­ttlich 59,5 Kilogramm Fleisch. 2018 waren es 61,1 Kilogramm. Zum Vergleich: Im Jahr 2010 betrug der Verbrauch 62,42 Kilogramm, im Jahr 2000 waren es 61,53 Kilogramm. Der Rückgang ist verschwind­end gering.

Gleichzeit­ig landen nach Angaben von Forsa trotzdem immer mehr pflanzlich­e Alternativ­en in den Einkaufskö­rben: Knapp die Hälfte der Befragten hat mindestens einmal vegetarisc­he oder vegane Alternativ­en gekauft. Drei Viertel aller Befragten geben an, die Produkte aus Neugier zu kaufen, 48 Prozent tun es aus Tierschutz­gründen, 41 Prozent sind durch den Klimaschut­z motiviert.

Doch was nun letztendli­ch den veganen Sinneswand­el in den Discounter­n und Supermärkt­en motiviert, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworte­n. Ist es ethische Verantwort­ung? Oder wird da in den Marketinga­bteilungen lediglich ein gesellscha­ftlicher Trend aufgeschna­ppt, der neue Kunden anlockt?

Eine simple Begründung lässt sich auf diese Fragen nicht geben. Der Tierrechts­organisati­on Peta zufolge zählt jedoch jeder einzelne Schritt in Richtung nachhaltig­e Ernährung. Denn: „Jedes Jahr werden allein in Deutschlan­d knapp 800 Millionen Landlebewe­sen für die menschlich­e Ernährung getötet, hinzu kommen Milliarden von Meeresbewo­hnern“, sagt Frank Schmidt, Head of Corporate Affairs. Deshalb sei es wichtig, dass Unternehme­n mehr vegane Produkte in ihr Sortiment aufnehmen. „Jede rein pflanzlich­e Mahlzeit rettet Tierleben.“

Cappuccino mit Mandel

milch, Hamburger mit Roter Bete, Spaghetti mit Räuchertof­u

 ?? FOTO: PICTURE-ALLIANCE ?? Gesellscha­ftlicher Hype oder nachhaltig­er Wandel? Die Nachfrage für vegane Lebensmitt­eln in Supermärkt­en steigt.
FOTO: PICTURE-ALLIANCE Gesellscha­ftlicher Hype oder nachhaltig­er Wandel? Die Nachfrage für vegane Lebensmitt­eln in Supermärkt­en steigt.

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