Eiweiß ist gesund und schützt sogar vor Depressionen. Wichtig aber ist, das richtige Maß zu finden.
Der Mensch hat einen angeborenen Hunger auf Eiweiß und konsumiert in der Regel instinktiv die richtige Menge. Ein Mangel macht uns ebenso krank wie eine Überdosis.
SAARBRÜCKEN
Die Ernährungsforschung hat große Fortschritte vorzuweisen, da Wissenschaftler inzwischen auf der Ebene der Zelle sehen können, wie sich verschiedene Lebensmittel auf unsere Gesundheit auswirken. So mehren sich auch die Studien, in denen untersucht wurde, wie unser Körper auf eiweißhaltige Lebensmittel reagiert.
Eiweiße, auch Proteine genannt, sind aus Aminosäuren aufgebaut. Eiweiße sind für uns lebenswichtig. Sie geben unseren Zellen ihre Form und Festigkeit, steuern als Enzyme und Hormone den Stoffwechsel, transportieren Sauerstoff und Fette und bekämpfen eindringende Krankheitserreger. Wir brauchen Eiweiß für den Aufbau, die Wartung und Reparatur unserer Zellen.
Von den 20 Aminosäuren, die unser Körper zum Aufbau der Proteine verwendet, kann er neun nicht selbst herstellen. Diese sogenannten essenziellen Aminosäuren müssen wir über die Nahrung aufnehmen. „Wir sind darauf programmiert, täglich circa 200 Kilolalorien Proteine aufzunehmen“, sagt Professor Dr. Gregor Hasler von der Universität Freiburg, der sich als Psychiater auch mit der Verbindung zwischen Darm und Gehirn sowie mit Essstörungen befasst.
Übergewicht durch Eiweißmangel
Fast alle Menschen weltweit, ob reich oder arm, jung oder alt, die sich ausgewogen ernähren, essen circa 200 Kilokalorien Eiweiß täglich. Nehmen wir aufgrund einer einseitigen Ernährung weniger Protein am Tag zu uns, gleichen wir das oft unbewusst durch einen höheren Konsum an zucker- und fettreichen Lebensmitteln aus.
„Fehlen Proteine mit allen nötigen essenziellen Aminosäuren, bleiben wir hungrig, bis wir diese bekommen. Leider sagt das Hungergefühl aber nicht, dass wir ausschließlich Proteine oder bestimmte Aminosäuren brauchen. Der Protein-Hunger wird deshalb häufig missverstanden. Dies führt zur unnötigen Einnahme von Zucker und Fett, die diesen bestimmten Hunger eben nicht stillen können“, erläutert Hasler.
4,1 Kilokalorien pro Gramm Eiweiß
Einige Beispiele zeigen, wie man auf die erforderlichen 200 Kilokalorien aus Eiweiß pro Tag kommen kann. Ein Gramm Eiweiß liefert 4,1 Kilokalorien. 100 Gramm Brokkoli enthalten 2,8 Gramm Protein. Diese Menge liefert rund 11,5 Kilokalorien. In 100 Gramm Hähnchenbrustfilet stecken rund 21 Gramm Eiweiß, die 86 Kilokalorien beisteuern. 100 Gramm mageres Schweinefleisch enthält 22 Gramm Eiweiß, was 90 Kalorien entspricht. 100 Gramm Alaska-Seelachs haben 18,3 Gramm Eiweiß, das sind 75 Kalorien. 100 Gramm Joghurt tragen 5,3 Gramm Eiweiß mit 22 Kalorien bei und 100 Gramm Erdnüsse kommen auf 29,8 Gramm Eiweiß mit 122 Kalorien.
Heißhunger durch extreme Diäten
Die beiden australischen Ernährungsforscher Professor Dr. David Raubenheimer und Professor Dr. Stephen Simpson sagen, dass unser Appetit auf Eiweiß unser Essverhalten und damit auch die Gesamtnahrungsaufnahme bestimmt. Auch ihre Forschungen zeigen, dass ein Mangel an Eiweiß zur Folge hat, dass wir automatisch mehr Fette und Zucker verzehren. „Menschen, die sich überwiegend kohlenhydratund fettreich ernähren, nehmen bis zu 35 Prozent mehr Gesamtkalorien zu sich, um ihre benötigte Eiweißdosis zu erreichen.“Das könnte erklären, weshalb eine unausgewogene Ernährung und extreme Diäten zu unerträglichem Heißhunger und Fressattacken führen können.
Lust auf würzige Snacks
Raubenheimer und Simpson konnten für ein Ernährungsexperiment 22 gesunde, schlanke Freiwillige gewinnen. Ihnen wurden zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen verschiedene Menüs serviert, die alle gleich viele Kalorien enthielten. Doch ohne es zu wissen und erkennen zu können, bekamen die Teilnehmer mal Mahlzeiten mit einem Eiweißanteil von zehn Prozent, dann mit 15 Prozent oder mit 25 Prozent. Sie durften zwischendurch Snacks essen, wenn sie sich hungrig fühlten.
Es zeigte sich, dass die Probanden an den Tagen mit der eiweißärmsten Kost zwölf Prozent mehr Kalorien in Form von Fett und Zucker verzehrten. Die meisten Zusatzkalorien waren nicht auf größere Portionen bei den Hauptmahlzeiten zurückzuführen, sondern auf Snacks zwischendurch. Um ihren andauernden Hunger zu dämpfen, griffen die Probanden aber nicht zu süßen, sondern zu herzhaften Snacks mit Umami-Geschmack. Dieser erinnert an Eiweiß, obwohl die Snacks in Wirklichkeit aus hochverarbeiteten Kohlenhydraten bestanden. Ein Beispiel sind Kartoffelchips.
Eine Erklärung für Fettleibigkeit
Die beiden Wissenschaftler sehen das Ergebnis ihrer Studie als Beweis dafür, dass „unsere oft eiweißarme, aber kalorienreiche Nahrung dazu führt, dass wird zu viele Kohlenhydrate und Fette konsumierten, um unsere benötigte Eiweißdosis zu erreichen.“Raubenheimer und Simpson haben errechnet, dass Eiweiß im Normalfall etwa 15 Prozent unserer gesamten Kalorienaufnahme ausmacht. Dieser Anteil hat sich weltweit in den letzten Jahrzehnten kaum verändert – zumindest nicht bei Menschen, denen kontinuierlich entsprechende Nahrungsmittel zur Verfügung stehen.
Genauere Analysen in den USA haben allerdings ergeben, dass in den Jahren 1961 bis 2000 der durchschnittliche Eiweißanteil von rund 14 auf 12,5 Prozent gesunken ist. „Der leicht gesunkene Eiweißanteil muss mit einer Erhöhung der Gesamtkalorienaufnahme einhergegangen sein“, schreiben Raubenheimer und Simpson. Zum Ausgleich wurden also mehr Zucker und Fett verzehrt. Dieser Kalorienzuwachs sei ausreichend, um die Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit in der Bevölkerung zu erklären.
Depressiv durch Eiweißmangel
Unter Stress kann der Bedarf an essenziellen Aminosäuren, zum Beispiel Tryptophan und Tyrosin, zunehmen. Diese Aminosäuren benötigt der Körper, um mehr Botenstoffe wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin herzustellen, die bei der Verarbeitung von Stress eine zentrale Rolle spielen. Gregor Hasler und sein Kollege Philipp Homan haben nachgewiesen, dass ein Mangel an Trypthophan, der auf eine einseitige Ernährung zurückzuführen ist, im Gehirn zu einem Mangel an Serotonin führt. Die meisten Menschen verkraften dies gut. „Aber Personen, die früher an Depressionen litten oder depressive Blutsverwandte haben, erlebten eine deutliche Zunahme depressiver Symptome wie Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und deprimierte Stimmung“, sagt Hasler. Wurde den Betroffenen Typthophan verabreicht, verschwanden diese Symptome vollständig.
Unser Frühstück beeinflusst unsere Gedanken
Auch die Professorin Dr. Soyoung Park vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung erklärt, dass unsere Ernährung unsere Gedanken und Entscheidungen beeinflusst. In einer Studie konnte sie nachweisen, dass uns ein zuckerreiches Frühstück ärgerlich und intolerant machen kann. Hingegen kann ein hoher Proteingehalt im Frühstück den Ärger dämpfen und zu mehr Toleranz führen.
Blutuntersuchungen zeigten, dass für das unterschiedliche Verhalten die Aminosäure Tyrosin verantwortlich ist. Sie ist die Ausgangssubstanz für den Botenstoff Dopamin, der oft als Glückshormon bezeichnet wird und im Gehirn unsere Motivation steigert. Bei einer eiweißreichen Ernährung nehmen wir mehr Tyrosin auf, wodurch mehr Dopamin gebildet werden kann. Das verbessert und stabilisiert unsere Stimmung.
Unter Federführung der Universitätsklinik Graz haben Forscher herausgefunden, dass depressive Menschen gehäuft einen Mangel an den essenziellen Aminosäuren Valin, Leucin und Isoleucin aufweisen. „Deshalb ist es bei Stresssymptomen und Depression besonders wichtig, nicht nur Pommes und Brot zu essen, sondern auch Gemüse, Eier, Käse und Leber, die diese essenziellen Aminosäuren liefern“, sagt Hasler.
Fragwürdige Diäten
Viele kommerziell erfolgreiche Diät-Programme, einschließlich Atkins und Dukan, empfehlen einen hohen Proteinanteil. Eiweiß sättigt gut, weil es nur langsam verdaut wird. Allerdings hat sich herausgestellt, dass extreme Hoch-Protein-Diäten nur kurzfristig zur Gewichtsreduktion führen. Bei einer Eiweiß-Diät wird die Zufuhr von Kohlenhydraten in der Regel stark eingeschränkt. „Wenn wir die Kohlenhydratzufuhr extrem reduzieren und nur Proteine zur Verfügung haben, werden wir mehr als 200 Kilokalorien Proteine essen“, sagt Gregor Hasler, „denn der Körper verwandelt einen Teil davon in Zucker.“
Kohlenhydrate unterstützen wichtige Funktionen unseres Körpers, unter anderem die Steuerung des Eiweiß- und Fettstoffwechsels. Fast ganz auf Kohlenhydrate zu verzichten, ist nicht gesund. Allerdings sollte man darauf achten, sogenannte komplexe Kohlenhydrate zu verzehren, die in Gemüse, Salat, Nüssen, Kräutern und Vollkornprodukten stecken. Auf einfache Kohlenhydrate, also Zucker und zuckerhaltige Produkte, sollte man weitgehend verzichten. Am schlimmsten sind zuckerhaltige Limonaden.
Hoher Eiweißkonsum beschleunigt die Alterung
Ein hoher Eiweißkonsum beschleunigt den Stoffwechsel, führt also auch zu schnellerem Zellwachstum und schnellerer Zellteilung. Das erscheint vielen Kraftsportlern als erstrebenswert. Sie konsumieren große Mengen an Protein, um ihr Muskelwachstum zu beschleunigen. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch , dass ein beschleunigtes Zellwachstum den Organismus schneller altern lässt. Zu viel Eiweiß ist ein Altersbeschleuniger. Das gilt auch für Zucker.
Würden wir ausschließlich Eiweiß verzehren, könnten wir sogar daran sterben. Die Science Busters, eine Gruppe österreichischer Wissenschaftler, die bei öffentlichen Auftritten, in Medien und in Büchern neue wissenschaftliche Erkenntnisse auf humorvolle Art präsentieren, haben dem Problem der Eiweißvergiftung den Beitrag „Tod durch Kaninchenbraten“gewidmet.
Menschen wie Forschungsreisende oder amerikanische Ureinwohner, denen nach einem langen Winter nur Fleisch von magerem Wild und Vögeln zur Verfügung stand, blieben selbst nach dem Verzehr größerer Portionen ständig hungrig. Schließlich aßen sie bis zu viermal so viel wie üblich, wurden trotzdem immer hungriger, litten unter Durchfall, Schwäche und Müdigkeit, Kopfschmerzen, schwachem Puls sowie niedrigem Blutdruck. Einige starben sogar. Warum eine solche Protein-Vergiftung tödlich sein kann, ist noch nicht völlig geklärt. Aber das Phänomen liefert ein weiteres Argument dafür, warum eine ausgewogene Ernährung so wichtig ist.
„Zu wenig Eiweiß in der Nahrung steigert das Risiko für Übergewicht und Fettleibigkeit.“
David Raubenheimer
Ernährungsforscher
Buchtipps: Gregor Hasler: Die DarmHirn-Connection. Klett-Cotta, 20 Euro. David Raubenheimer. Stephen Simpson: Essinstinkt, Riva-Verlag, 20 Euro.