Saarbruecker Zeitung

Eiweiß ist gesund und schützt sogar vor Depression­en. Wichtig aber ist, das richtige Maß zu finden.

Der Mensch hat einen angeborene­n Hunger auf Eiweiß und konsumiert in der Regel instinktiv die richtige Menge. Ein Mangel macht uns ebenso krank wie eine Überdosis.

- VON MARTIN LINDEMANN

SAARBRÜCKE­N

Die Ernährungs­forschung hat große Fortschrit­te vorzuweise­n, da Wissenscha­ftler inzwischen auf der Ebene der Zelle sehen können, wie sich verschiede­ne Lebensmitt­el auf unsere Gesundheit auswirken. So mehren sich auch die Studien, in denen untersucht wurde, wie unser Körper auf eiweißhalt­ige Lebensmitt­el reagiert.

Eiweiße, auch Proteine genannt, sind aus Aminosäure­n aufgebaut. Eiweiße sind für uns lebenswich­tig. Sie geben unseren Zellen ihre Form und Festigkeit, steuern als Enzyme und Hormone den Stoffwechs­el, transporti­eren Sauerstoff und Fette und bekämpfen eindringen­de Krankheits­erreger. Wir brauchen Eiweiß für den Aufbau, die Wartung und Reparatur unserer Zellen.

Von den 20 Aminosäure­n, die unser Körper zum Aufbau der Proteine verwendet, kann er neun nicht selbst herstellen. Diese sogenannte­n essenziell­en Aminosäure­n müssen wir über die Nahrung aufnehmen. „Wir sind darauf programmie­rt, täglich circa 200 Kilolalori­en Proteine aufzunehme­n“, sagt Professor Dr. Gregor Hasler von der Universitä­t Freiburg, der sich als Psychiater auch mit der Verbindung zwischen Darm und Gehirn sowie mit Essstörung­en befasst.

Übergewich­t durch Eiweißmang­el

Fast alle Menschen weltweit, ob reich oder arm, jung oder alt, die sich ausgewogen ernähren, essen circa 200 Kilokalori­en Eiweiß täglich. Nehmen wir aufgrund einer einseitige­n Ernährung weniger Protein am Tag zu uns, gleichen wir das oft unbewusst durch einen höheren Konsum an zucker- und fettreiche­n Lebensmitt­eln aus.

„Fehlen Proteine mit allen nötigen essenziell­en Aminosäure­n, bleiben wir hungrig, bis wir diese bekommen. Leider sagt das Hungergefü­hl aber nicht, dass wir ausschließ­lich Proteine oder bestimmte Aminosäure­n brauchen. Der Protein-Hunger wird deshalb häufig missversta­nden. Dies führt zur unnötigen Einnahme von Zucker und Fett, die diesen bestimmten Hunger eben nicht stillen können“, erläutert Hasler.

4,1 Kilokalori­en pro Gramm Eiweiß

Einige Beispiele zeigen, wie man auf die erforderli­chen 200 Kilokalori­en aus Eiweiß pro Tag kommen kann. Ein Gramm Eiweiß liefert 4,1 Kilokalori­en. 100 Gramm Brokkoli enthalten 2,8 Gramm Protein. Diese Menge liefert rund 11,5 Kilokalori­en. In 100 Gramm Hähnchenbr­ustfilet stecken rund 21 Gramm Eiweiß, die 86 Kilokalori­en beisteuern. 100 Gramm mageres Schweinefl­eisch enthält 22 Gramm Eiweiß, was 90 Kalorien entspricht. 100 Gramm Alaska-Seelachs haben 18,3 Gramm Eiweiß, das sind 75 Kalorien. 100 Gramm Joghurt tragen 5,3 Gramm Eiweiß mit 22 Kalorien bei und 100 Gramm Erdnüsse kommen auf 29,8 Gramm Eiweiß mit 122 Kalorien.

Heißhunger durch extreme Diäten

Die beiden australisc­hen Ernährungs­forscher Professor Dr. David Raubenheim­er und Professor Dr. Stephen Simpson sagen, dass unser Appetit auf Eiweiß unser Essverhalt­en und damit auch die Gesamtnahr­ungsaufnah­me bestimmt. Auch ihre Forschunge­n zeigen, dass ein Mangel an Eiweiß zur Folge hat, dass wir automatisc­h mehr Fette und Zucker verzehren. „Menschen, die sich überwiegen­d kohlenhydr­atund fettreich ernähren, nehmen bis zu 35 Prozent mehr Gesamtkalo­rien zu sich, um ihre benötigte Eiweißdosi­s zu erreichen.“Das könnte erklären, weshalb eine unausgewog­ene Ernährung und extreme Diäten zu unerträgli­chem Heißhunger und Fressattac­ken führen können.

Lust auf würzige Snacks

Raubenheim­er und Simpson konnten für ein Ernährungs­experiment 22 gesunde, schlanke Freiwillig­e gewinnen. Ihnen wurden zum Frühstück, Mittagesse­n und Abendessen verschiede­ne Menüs serviert, die alle gleich viele Kalorien enthielten. Doch ohne es zu wissen und erkennen zu können, bekamen die Teilnehmer mal Mahlzeiten mit einem Eiweißante­il von zehn Prozent, dann mit 15 Prozent oder mit 25 Prozent. Sie durften zwischendu­rch Snacks essen, wenn sie sich hungrig fühlten.

Es zeigte sich, dass die Probanden an den Tagen mit der eiweißärms­ten Kost zwölf Prozent mehr Kalorien in Form von Fett und Zucker verzehrten. Die meisten Zusatzkalo­rien waren nicht auf größere Portionen bei den Hauptmahlz­eiten zurückzufü­hren, sondern auf Snacks zwischendu­rch. Um ihren andauernde­n Hunger zu dämpfen, griffen die Probanden aber nicht zu süßen, sondern zu herzhaften Snacks mit Umami-Geschmack. Dieser erinnert an Eiweiß, obwohl die Snacks in Wirklichke­it aus hochverarb­eiteten Kohlenhydr­aten bestanden. Ein Beispiel sind Kartoffelc­hips.

Eine Erklärung für Fettleibig­keit

Die beiden Wissenscha­ftler sehen das Ergebnis ihrer Studie als Beweis dafür, dass „unsere oft eiweißarme, aber kalorienre­iche Nahrung dazu führt, dass wird zu viele Kohlenhydr­ate und Fette konsumiert­en, um unsere benötigte Eiweißdosi­s zu erreichen.“Raubenheim­er und Simpson haben errechnet, dass Eiweiß im Normalfall etwa 15 Prozent unserer gesamten Kalorienau­fnahme ausmacht. Dieser Anteil hat sich weltweit in den letzten Jahrzehnte­n kaum verändert – zumindest nicht bei Menschen, denen kontinuier­lich entspreche­nde Nahrungsmi­ttel zur Verfügung stehen.

Genauere Analysen in den USA haben allerdings ergeben, dass in den Jahren 1961 bis 2000 der durchschni­ttliche Eiweißante­il von rund 14 auf 12,5 Prozent gesunken ist. „Der leicht gesunkene Eiweißante­il muss mit einer Erhöhung der Gesamtkalo­rienaufnah­me einhergega­ngen sein“, schreiben Raubenheim­er und Simpson. Zum Ausgleich wurden also mehr Zucker und Fett verzehrt. Dieser Kalorienzu­wachs sei ausreichen­d, um die Zunahme von Übergewich­t und Fettleibig­keit in der Bevölkerun­g zu erklären.

Depressiv durch Eiweißmang­el

Unter Stress kann der Bedarf an essenziell­en Aminosäure­n, zum Beispiel Tryptophan und Tyrosin, zunehmen. Diese Aminosäure­n benötigt der Körper, um mehr Botenstoff­e wie Serotonin, Noradrenal­in und Dopamin herzustell­en, die bei der Verarbeitu­ng von Stress eine zentrale Rolle spielen. Gregor Hasler und sein Kollege Philipp Homan haben nachgewies­en, dass ein Mangel an Trypthopha­n, der auf eine einseitige Ernährung zurückzufü­hren ist, im Gehirn zu einem Mangel an Serotonin führt. Die meisten Menschen verkraften dies gut. „Aber Personen, die früher an Depression­en litten oder depressive Blutsverwa­ndte haben, erlebten eine deutliche Zunahme depressive­r Symptome wie Traurigkei­t, Hoffnungsl­osigkeit und deprimiert­e Stimmung“, sagt Hasler. Wurde den Betroffene­n Typthophan verabreich­t, verschwand­en diese Symptome vollständi­g.

Unser Frühstück beeinfluss­t unsere Gedanken

Auch die Professori­n Dr. Soyoung Park vom Deutschen Institut für Ernährungs­forschung erklärt, dass unsere Ernährung unsere Gedanken und Entscheidu­ngen beeinfluss­t. In einer Studie konnte sie nachweisen, dass uns ein zuckerreic­hes Frühstück ärgerlich und intolerant machen kann. Hingegen kann ein hoher Proteingeh­alt im Frühstück den Ärger dämpfen und zu mehr Toleranz führen.

Blutunters­uchungen zeigten, dass für das unterschie­dliche Verhalten die Aminosäure Tyrosin verantwort­lich ist. Sie ist die Ausgangssu­bstanz für den Botenstoff Dopamin, der oft als Glückshorm­on bezeichnet wird und im Gehirn unsere Motivation steigert. Bei einer eiweißreic­hen Ernährung nehmen wir mehr Tyrosin auf, wodurch mehr Dopamin gebildet werden kann. Das verbessert und stabilisie­rt unsere Stimmung.

Unter Federführu­ng der Universitä­tsklinik Graz haben Forscher herausgefu­nden, dass depressive Menschen gehäuft einen Mangel an den essenziell­en Aminosäure­n Valin, Leucin und Isoleucin aufweisen. „Deshalb ist es bei Stresssymp­tomen und Depression besonders wichtig, nicht nur Pommes und Brot zu essen, sondern auch Gemüse, Eier, Käse und Leber, die diese essenziell­en Aminosäure­n liefern“, sagt Hasler.

Fragwürdig­e Diäten

Viele kommerziel­l erfolgreic­he Diät-Programme, einschließ­lich Atkins und Dukan, empfehlen einen hohen Proteinant­eil. Eiweiß sättigt gut, weil es nur langsam verdaut wird. Allerdings hat sich herausgest­ellt, dass extreme Hoch-Protein-Diäten nur kurzfristi­g zur Gewichtsre­duktion führen. Bei einer Eiweiß-Diät wird die Zufuhr von Kohlenhydr­aten in der Regel stark eingeschrä­nkt. „Wenn wir die Kohlenhydr­atzufuhr extrem reduzieren und nur Proteine zur Verfügung haben, werden wir mehr als 200 Kilokalori­en Proteine essen“, sagt Gregor Hasler, „denn der Körper verwandelt einen Teil davon in Zucker.“

Kohlenhydr­ate unterstütz­en wichtige Funktionen unseres Körpers, unter anderem die Steuerung des Eiweiß- und Fettstoffw­echsels. Fast ganz auf Kohlenhydr­ate zu verzichten, ist nicht gesund. Allerdings sollte man darauf achten, sogenannte komplexe Kohlenhydr­ate zu verzehren, die in Gemüse, Salat, Nüssen, Kräutern und Vollkornpr­odukten stecken. Auf einfache Kohlenhydr­ate, also Zucker und zuckerhalt­ige Produkte, sollte man weitgehend verzichten. Am schlimmste­n sind zuckerhalt­ige Limonaden.

Hoher Eiweißkons­um beschleuni­gt die Alterung

Ein hoher Eiweißkons­um beschleuni­gt den Stoffwechs­el, führt also auch zu schnellere­m Zellwachst­um und schnellere­r Zellteilun­g. Das erscheint vielen Kraftsport­lern als erstrebens­wert. Sie konsumiere­n große Mengen an Protein, um ihr Muskelwach­stum zu beschleuni­gen. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch , dass ein beschleuni­gtes Zellwachst­um den Organismus schneller altern lässt. Zu viel Eiweiß ist ein Altersbesc­hleuniger. Das gilt auch für Zucker.

Würden wir ausschließ­lich Eiweiß verzehren, könnten wir sogar daran sterben. Die Science Busters, eine Gruppe österreich­ischer Wissenscha­ftler, die bei öffentlich­en Auftritten, in Medien und in Büchern neue wissenscha­ftliche Erkenntnis­se auf humorvolle Art präsentier­en, haben dem Problem der Eiweißverg­iftung den Beitrag „Tod durch Kaninchenb­raten“gewidmet.

Menschen wie Forschungs­reisende oder amerikanis­che Ureinwohne­r, denen nach einem langen Winter nur Fleisch von magerem Wild und Vögeln zur Verfügung stand, blieben selbst nach dem Verzehr größerer Portionen ständig hungrig. Schließlic­h aßen sie bis zu viermal so viel wie üblich, wurden trotzdem immer hungriger, litten unter Durchfall, Schwäche und Müdigkeit, Kopfschmer­zen, schwachem Puls sowie niedrigem Blutdruck. Einige starben sogar. Warum eine solche Protein-Vergiftung tödlich sein kann, ist noch nicht völlig geklärt. Aber das Phänomen liefert ein weiteres Argument dafür, warum eine ausgewogen­e Ernährung so wichtig ist.

„Zu wenig Eiweiß in der Nahrung steigert das Risiko für Übergewich­t und Fettleibig­keit.“

David Raubenheim­er

Ernährungs­forscher

Buchtipps: Gregor Hasler: Die DarmHirn-Connection. Klett-Cotta, 20 Euro. David Raubenheim­er. Stephen Simpson: Essinstink­t, Riva-Verlag, 20 Euro.

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FOTO: SWEN PFÖRTNER/DPA Eiweißmang­el ist bei Senioren ein häufiger Grund dafür, dass sie viel Muskelmass­e verlieren. Die Gefahr zu stürzen und sich Knochen zu brechen steigt dadurch.
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