Saarbruecker Zeitung

Söder warnt vor zu starker Lockerung

Zwischen dritter Welle und Lockdown-Frust – so lautet die Ausgangsla­ge vor dem nächsten BundLänder-Gipfel. Sind neue Lockerunge­n realistisc­h?

- VON MARCO HADEM, CHRISTOPH TROST, JÖRG BLANK, GREGOR MAYNTZ UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN (epd) Vor der nächsten Bund-Länder-Runde zu Corona hat Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) vor zu weitreiche­nden Öffnungen gewarnt. „Öffnen ja – aber mit Vorsicht. Sonst droht ein Blindflug in die dritte Welle“, sagte Söder der Bild am Sonntag. Am Mittwoch wollen Bundesregi­erung und Ländermini­sterpräsid­enten über das weitere Vorgehen in der Pandemie beraten. Unterdesse­n spricht sich eine Mehrheit der Deutschen für weitreiche­nde Öffnungen aus: Nach einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Insa sind 75 Prozent für die Öffnung des Einzelhand­els im März. Zudem sprachen sich von den 1016 Befragten 54 Prozent dafür aus, Restaurant­s und Kneipen im März wieder zu öffnen.

MÜNCHEN/BERLIN (dpa/RP) Wer Angela Merkel und Markus Söder dieser Tage in Sachen Corona-Krise lauscht, kann neue Töne hören: So spricht die Kanzlerin neuerdings von „Öffnungssc­hritten“in Paketen. Und der bayerische Ministerpr­äsident und CSU-Chef wirbt nun für eine „Öffnungsma­trix“. Kurz vor der nächsten Konferenz von Bund und Ländern zur weiteren Strategie in der Pandemie an diesem Mittwoch kann man da schon hellhörig werden. Geben die beiden, die stets für einen strikten Anti-Corona-Kurs kämpften, immer lauter werdenden Rufen nach Lockerunge­n nach?

Auch wenn Söder in Bayern zuletzt – wohl auch auf internen Druck – einige Öffnungen veranlasst­e, was manchen verwundert­e. Tatsächlic­h findet, wer seinen Kurs im Corona-Frühling 2021 genau betrachtet, auch ein anderes Bild: In Bayern dürften weiterhin mit die strengsten Corona-Auflagen in Deutschlan­d gelten, etwa in Hotspots. Und auch bei Merkel schwingt nach wie vor die bisherige Linie mit, die ihr bei anderen Länderchef­s das Image der „Bremserin“eingehande­lt hat. So warnt sie vor allzu großen Lockerungs­hoffnungen im Zusammensp­iel mit Corona-Selbsttest­s.

Was ist also am Mittwoch zu erwarten, wenn ganz Deutschlan­d wieder auf die Ergebnisse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz wartet? Es dürften Öffnungen in homöopathi­schen Dosen sein. Genug, um den Menschen nach dem Winter-Lockdown ein wenig Hoffnung zu geben. Aber so sparsam dosiert, dass auch durch die immer mehr verbreitet­en Mutationen nicht gleich ein Rückfall ins exponentie­lle Wachstum droht.

Es ist ein schmaler Grat. Vor dem virtuellen Treffen mit Merkel mehren sich die Erwartunge­n an Öffnungssc­hritte aus dem seit nun vier Monaten anhaltende­n zweiten Lockdown. Zugleich wird angesichts steigender Inzidenzza­hlen vor einer zu schnellen Öffnung gewarnt.

Die Regierungs­chefs wollten die aktuelle Entwicklun­g zur Bewertung dafür nehmen, welche Wirtschaft­ssparten wieder in Gang kommen dürfen. Dafür war im Beschlussp­apier der letzten Konferenz ein Inzidenzwe­rt von 35 genannt worden. Derzeit liegt er allerdings bei 63,8 mit immer wieder geringfügi­g steigender Tendenz. SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach warnte daher erneut, die dritte Welle habe begonnen, die B117-Mutation werde sich in Deutschlan­d voll durchsetze­n. Gleichzeit­ig wollten viele Menschen Erleichter­ungen. „Wie kann man verhindern, dass wir in die dritte Welle hinein lockern?“, fragte Lauterbach. Er riet, die Erstimpfun­gen vorzuziehe­n und in Betrieben und Schulen einmal wöchentlic­h zu testen. Auch der Wirtschaft­srat der CDU fordert eine schnellstm­ögliche Ausweitung der Schnell- und Selbsttest­strategie und plädierte für Öffnungen. Der deutsche Mode- und Schuhhande­l warnte vor verheerend­en Auswirkung­en im Falle ausbleiben­der Öffnungen.

Thüringens CDU-Chef Mario Voigt erwartet, dass die Regierungs­chefs eine klare und verlässlic­he Perspektiv­e für alle aufzeigen. „Die Bürger wollen den Corona-Frühling“, sagt Voigt. Die Botschaft des Treffens müsse eine „richtige Balance aus Gesundheit­sschutz und dem Schutz der Gesellscha­ft vor den seelischen und materielle­n Schäden der Krise“sein.

Angesichts großer Mengen verfügbare­n, von vielen aber abgelehnte­n Astrazenec­a-Impfstoffs sprachen sich mehrere Ministerpr­äsidenten zudem für Lockerunge­n bei der Impfreihen­folge aus, so auch Söder.

Auch in Merkels Umfeld weiß man um die riesigen Öffnungser­wartungen, glaubt wegen der Mutationen aber nicht daran, in nächster Zeit die magische 35er-Inzidenz überhaupt erreichen zu können. Hinter vorgehalte­ner Hand heißt es in der Bundesregi­erung, aus epidemiolo­gischer Sicht werde man wohl erst um Pfingsten herum soweit sein, dass im größeren Stil geöffnet werden kann, wegen der dann fortgeschr­ittenen Impfungen sowie dem Sommer-Effekt.

Noch mehr als die im Herbst aus dem Amt scheidende Kanzlerin muss aber Söder parteiinte­rn die

Stimmung beachten. Hier gilt es frühzeitig „abzufedern“, damit der Rückhalt weiter hoch bleibt. Und: Ohne Lockerunge­n drohe sich die Bevölkerun­g vom generellen Corona-Kurs abzuwenden, heißt es parteiinte­rn. Das will auch Merkel vermeiden.

Vieles spricht daher dafür, dass sich Söder wie Merkel beim Gipfel für einen Weg einsetzen werden, der genau diese Gemengelag­en unter einen Hut bringt. „Wir brauchen ein nachvollzi­ehbares Konzept, das sowohl bei besser werdenden Inzidenzen Öffnungen vorsieht, aber auch die Möglichkei­t der Sicherheit bietet, wenn es schlechter wird“, sagte Söder am Freitag. Es brauche einen Sicherheit­spuffer für Folgen der Mutationen. Merkel spricht von Paketen. Klarheit gibt es am Mittwoch.

„Wie kann man verhindern, dass wir in die dritte Welle hinein lockern?“

Karl Lauterbach (SPD)

Gesundheit­spolitiker

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FOTO: IMAGO IMAGES Die Sonne zieht die Menschen nach dem langen Corona-Winter ins Freie, wie hier in Köln. Der Ruf nach Lockerunge­n wird lauter. Aber die Virus-Lage spricht dagegen, sagen Experten. Was tun?

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