Saarbruecker Zeitung

Wie der Putzzwang einer Saarländer­in beinahe ihr Leben zestörte – und was ihr geholfen hat.

Eine Saarländer­in berichtet von ihrem Putzzwang, der es ihr unmöglich gemacht hat, ein normales Leben zu führen.

- VON ISABELL SCHIRRA

Schon 15 Jahre ist Beate Wagner (Name von der Redaktion geändert) dunkelste Stunde her. Und doch erinnert sie sich ganz genau an diesen Tag. „Es war der 23. Februar“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen. Es war der Tag, an dem ihr Leben an einen Scheideweg geriet. Der Morgen hatte früh für sie begonnen, wie üblich. Denn bevor die Kinder in die Schule gingen, bevor Wagner überhaupt deren Schulbrote zubereiten konnte, musste sie erst einmal eines: Putzen. Oberfläche­n desinfizie­ren, Türklinken abwischen, Hände waschen. Immer und immer wieder. „Auch wenn eigentlich alles erledigt war, hat mein Gehirn immer weitergesu­cht“, so beschreibt Wagner ihren Putzzwang. Damals, an diesem 23. Februar, erreicht ihr Leidensdru­ck ein Maximum. „Ich kann so nicht mehr leben, ich kann aus eigener Kraft aber auch nicht mehr anders sein“, das seien ihre Gedanken gewesen, erzählt Wagner. Sie habe nur noch funktionie­rt, von ihren Zwängen regiert, ohne Freude. „Hätte ich keinen Mann, keine Kinder gehabt, hätte ich mir an diesem Morgen wohl das Leben genommen“, sagt sie weiter.

Doch Beate Wagner hat Familie, eine ziemlich starke sogar, wie sie sagt. Schon früh haben sie gemerkt, was los ist, zuhause konnte Wagner ihre Zwänge schließlic­h kaum verbergen. „Keiner durfte ins Haus, ohne die Sohle der Schuhe zu zeigen“, erinnert sie sich. Braune Blätter im Wald und die damit verbundene Assoziatio­n an Fäkalien seien ihr der größte Feind gewesen. Nach dem Einkaufen habe sie nicht nur die Hände desinfizie­rt, sondern auch alle Einkäufe. Und wenn sie sich nach dem Naseputzen einmal nicht sofort die Hände waschen konnte, musste sie das unweigerli­ch sofort ihrem Gegenüber gestehen. Beichtzwan­g nennt sich das. Konnte Wagner also nicht ihrem Putzzwang nachgehen, schlug der Beichtzwan­g durch. Ein Teufelskre­is. „In meiner extremen Phase habe ich die Böden und Wände mit Chlorreini­ger geputzt“, erinnert sie sich, „am liebsten hätte ich wohl auch mich selbst damit gereinigt“. Der beißende Geruch der Reiniger sei ihrem Mann immer wieder aufgefalle­n. Alles habe er versucht, um ihr zu helfen. Ihr gut zugeredet, auch mal die Putzmittel weggeworfe­n. Es half nichts, „der Zwang hat mich beherrscht“, gibt Beate Wagner zu.

An diesem Wintermorg­en vor 15 Jahren konnte Wagners Mann nur noch eines für sie tun: Sie auf ihren Wunsch in die Klinik bringen. Noch drei Wochen zuvor sei sie dort zur Beratung gewesen. „Da war ich noch nicht bereit für eine Therapie, dachte, ich kriege noch einmal alleine die Kurve“, sagt Wagner. Die sogenannte Exposition, also die gezielte Konfrontat­ion mit den Inhalten der Zwänge, ist fester Bestandtei­l der Behandlung von Zwangspati­enten. Doch eigentlich seien alle Klinikaspe­kte Konfrontat­ion pur gewesen, so Wagner. „In der Tretwasser-Anlage habe ich mich gefragt, ob diejenigen, die vor mir drin waren, saubere Füße hatten, ähnliche Probleme hatte ich beim Ausrollen und Benutzen der Gymnastikm­atten“, sagt sie. „Das sind Hürden, die ein gesunder Mensch gar nicht hat.“„Das Schlimmste“, so nennt Wagner es, habe aber alle anderen Situatione­n übertroffe­n: Sie musste nicht nur im Flurbad Mülleimer, Waschbecke­n und Badewanne anfassen, sondern dann auch mit ungewasche­nen Händen die eigenen, sauberen Kleider im Schrank berühren. Und sich zu guter Letzt, so wie sie war, ins Bett legen. „Ich hatte über Stunden eine Panikattac­ke nach der anderen“, erinnert sie sich. Als die Familie kam, habe sie ihnen „fasst mich nicht an, ich bin verseucht“zugeraunt. Denn davor hatte sie immer am meisten Angst: die Familie anzustecke­n, eine Krankheit weiterzuge­ben. Erst nach Stunden konnte Wagner sich beruhigen. Die Nachfrage der Ärztin, „Und, sind sie krank geworden?“, war für Wagner wie ein Knackpunkt. Natürlich war sie nicht krank geworden. „Es war vielleicht nicht schön, aber es hat nichts an meinem Gesundheit­szustand geändert“, stellt Wagner fest.

„Ganz, ganz wichtig“, das sagt Wagner immer wieder im Kontext der Psychother­apie. Sie könne jedem nur empfehlen, sich besser früher als später Hilfe zu holen. „Es hilft, man muss auf das hören, was die Ärzte einem sagen.“Sie selbst kann noch heute von den Erfolgen ihrer Therapie zehren. Denn gerade durch die Pandemie, das staatlich angeordnet­e Händewasch­en und Desinfizie­ren kamen ihre Zwänge wieder in den Vordergrun­d. „Ich habe mich dann zehn Tage krankschre­iben lassen und noch mal das Gelernte rausgeholt“, erzählt Wagner. „Man muss einfach wachsam mit sich selbst bleiben.“

„In meiner extremen

Phase habe ich die Böden und Wände mit Chlorreini­ger geputzt, am liebsten hätte ich wohl auch mich selbst

damit gereinigt.“

Beate Wagner

 ?? FOTO: ROBBY LORENZ ?? Psychische Krankheite­n können unbegreifl­ich und unzugängli­ch sein – genau wie die Natur um uns herum. Die Fotos der Serie zeigen wirre Naturgebil­de und den Versuch, die Krankheite­n bildhaft darzustell­en.
FOTO: ROBBY LORENZ Psychische Krankheite­n können unbegreifl­ich und unzugängli­ch sein – genau wie die Natur um uns herum. Die Fotos der Serie zeigen wirre Naturgebil­de und den Versuch, die Krankheite­n bildhaft darzustell­en.

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