Wie der Putzzwang einer Saarländerin beinahe ihr Leben zestörte – und was ihr geholfen hat.
Eine Saarländerin berichtet von ihrem Putzzwang, der es ihr unmöglich gemacht hat, ein normales Leben zu führen.
Schon 15 Jahre ist Beate Wagner (Name von der Redaktion geändert) dunkelste Stunde her. Und doch erinnert sie sich ganz genau an diesen Tag. „Es war der 23. Februar“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen. Es war der Tag, an dem ihr Leben an einen Scheideweg geriet. Der Morgen hatte früh für sie begonnen, wie üblich. Denn bevor die Kinder in die Schule gingen, bevor Wagner überhaupt deren Schulbrote zubereiten konnte, musste sie erst einmal eines: Putzen. Oberflächen desinfizieren, Türklinken abwischen, Hände waschen. Immer und immer wieder. „Auch wenn eigentlich alles erledigt war, hat mein Gehirn immer weitergesucht“, so beschreibt Wagner ihren Putzzwang. Damals, an diesem 23. Februar, erreicht ihr Leidensdruck ein Maximum. „Ich kann so nicht mehr leben, ich kann aus eigener Kraft aber auch nicht mehr anders sein“, das seien ihre Gedanken gewesen, erzählt Wagner. Sie habe nur noch funktioniert, von ihren Zwängen regiert, ohne Freude. „Hätte ich keinen Mann, keine Kinder gehabt, hätte ich mir an diesem Morgen wohl das Leben genommen“, sagt sie weiter.
Doch Beate Wagner hat Familie, eine ziemlich starke sogar, wie sie sagt. Schon früh haben sie gemerkt, was los ist, zuhause konnte Wagner ihre Zwänge schließlich kaum verbergen. „Keiner durfte ins Haus, ohne die Sohle der Schuhe zu zeigen“, erinnert sie sich. Braune Blätter im Wald und die damit verbundene Assoziation an Fäkalien seien ihr der größte Feind gewesen. Nach dem Einkaufen habe sie nicht nur die Hände desinfiziert, sondern auch alle Einkäufe. Und wenn sie sich nach dem Naseputzen einmal nicht sofort die Hände waschen konnte, musste sie das unweigerlich sofort ihrem Gegenüber gestehen. Beichtzwang nennt sich das. Konnte Wagner also nicht ihrem Putzzwang nachgehen, schlug der Beichtzwang durch. Ein Teufelskreis. „In meiner extremen Phase habe ich die Böden und Wände mit Chlorreiniger geputzt“, erinnert sie sich, „am liebsten hätte ich wohl auch mich selbst damit gereinigt“. Der beißende Geruch der Reiniger sei ihrem Mann immer wieder aufgefallen. Alles habe er versucht, um ihr zu helfen. Ihr gut zugeredet, auch mal die Putzmittel weggeworfen. Es half nichts, „der Zwang hat mich beherrscht“, gibt Beate Wagner zu.
An diesem Wintermorgen vor 15 Jahren konnte Wagners Mann nur noch eines für sie tun: Sie auf ihren Wunsch in die Klinik bringen. Noch drei Wochen zuvor sei sie dort zur Beratung gewesen. „Da war ich noch nicht bereit für eine Therapie, dachte, ich kriege noch einmal alleine die Kurve“, sagt Wagner. Die sogenannte Exposition, also die gezielte Konfrontation mit den Inhalten der Zwänge, ist fester Bestandteil der Behandlung von Zwangspatienten. Doch eigentlich seien alle Klinikaspekte Konfrontation pur gewesen, so Wagner. „In der Tretwasser-Anlage habe ich mich gefragt, ob diejenigen, die vor mir drin waren, saubere Füße hatten, ähnliche Probleme hatte ich beim Ausrollen und Benutzen der Gymnastikmatten“, sagt sie. „Das sind Hürden, die ein gesunder Mensch gar nicht hat.“„Das Schlimmste“, so nennt Wagner es, habe aber alle anderen Situationen übertroffen: Sie musste nicht nur im Flurbad Mülleimer, Waschbecken und Badewanne anfassen, sondern dann auch mit ungewaschenen Händen die eigenen, sauberen Kleider im Schrank berühren. Und sich zu guter Letzt, so wie sie war, ins Bett legen. „Ich hatte über Stunden eine Panikattacke nach der anderen“, erinnert sie sich. Als die Familie kam, habe sie ihnen „fasst mich nicht an, ich bin verseucht“zugeraunt. Denn davor hatte sie immer am meisten Angst: die Familie anzustecken, eine Krankheit weiterzugeben. Erst nach Stunden konnte Wagner sich beruhigen. Die Nachfrage der Ärztin, „Und, sind sie krank geworden?“, war für Wagner wie ein Knackpunkt. Natürlich war sie nicht krank geworden. „Es war vielleicht nicht schön, aber es hat nichts an meinem Gesundheitszustand geändert“, stellt Wagner fest.
„Ganz, ganz wichtig“, das sagt Wagner immer wieder im Kontext der Psychotherapie. Sie könne jedem nur empfehlen, sich besser früher als später Hilfe zu holen. „Es hilft, man muss auf das hören, was die Ärzte einem sagen.“Sie selbst kann noch heute von den Erfolgen ihrer Therapie zehren. Denn gerade durch die Pandemie, das staatlich angeordnete Händewaschen und Desinfizieren kamen ihre Zwänge wieder in den Vordergrund. „Ich habe mich dann zehn Tage krankschreiben lassen und noch mal das Gelernte rausgeholt“, erzählt Wagner. „Man muss einfach wachsam mit sich selbst bleiben.“
„In meiner extremen
Phase habe ich die Böden und Wände mit Chlorreiniger geputzt, am liebsten hätte ich wohl auch mich selbst
damit gereinigt.“
Beate Wagner