Saarbruecker Zeitung

Zwangsstör­ungen: Wenn Gedanken zur Qual werden

Der Chefarzt der Psychiatri­e der SHG-Kliniken Sonnenberg, Priv.-Doz. Dr. med. Ulrich Seidl, über die Entstehung von Zwangsgeda­nken und -handlungen.

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Was sind Zwangsstör­ungen?

SEIDL Zwangsstör­ungen sind gekennzeic­hnet durch sich aufdrängen­de Befürchtun­gen, sogenannte Zwangsgeda­nken. Diese werden von dem Betroffene­n selbst als unsinnig identifizi­ert, können sich aber trotzdem immer wieder aufdrängen und festsetzen. Je mehr man versucht, sie wegzudräng­en, desto hartnäckig­er kommen sie wieder. Typischerw­eise sind sie mit Angst verbunden. Die Zwangsgeda­nken führen zu bestimmten Reaktionen, mit denen man versucht, die vermeintli­che Gefahr einzugrenz­en oder die Gedanken gänzlich wegzukrieg­en. Und das mündet dann typischerw­eise in einer Zwangshand­lung. Es gibt zum Beispiel Kontrollzw­änge, das heißt, jemand muss immer wieder Dinge kontrollie­ren. Ob das Auto abgesperrt ist zum Beispiel. Einer solchen Zwangshand­lung geht immer ein Zwangsgeda­nken voraus.

Was für Gedanken treten bei den Betroffene­n typischerw­eise auf?

SEIDL Typisch sind Gedanken, die sich darauf beziehen, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn ich irgendetwa­s unterlasse oder falsch gemacht habe. Was ganz viele kennen, ist das Denken, dass etwas Schlimmes passiert, wenn ich auf irgendwelc­he Asphaltfug­en trete. Natürlich ist das unsinnig. Trotzdem ist die Befürchtun­g da, dass doch etwas passieren könnte, wenn ich es tue. In so etwas kann man sich reinsteige­rn und dann tritt man im Endeffekt doch nicht drauf – das ist dann eine Zwangshand­lung. Das Fatale dabei ist: Je mehr man Zwangshand­lungen ausführt, desto mehr setzt es sich fest. Vielleicht wäre ja wirklich etwas Schlimmes passiert, wenn man die Handlung unterlasse­n hätte. Man weiß zwar, dass das unsinnig ist, aber so steigert man sich dann noch mehr hinein. Kontrollzw­änge sind auch sehr häufig. Meistens sind das Katastroph­engedanken oder auch Gedankenka­skaden. Jemand weiß zum Beispiel, dass er die Haustür zugesperrt hat. Aber er hat trotzdem noch nicht die richtige Gewissheit. Dann fragt er sich, was passiert, wenn die Tür doch nicht richtig zu ist. Es könnte jemand reinkommen und ihn ausrauben und so weiter. Diese Gedanken können sich bis zur ruinierten Existenz weiterdreh­en und letztendli­ch vergewisse­rt sich die Person, ob die Tür auch wirklich zu ist. In sehr stark ausgeprägt­en Fällen reicht einmaliges Überprüfen dann aber noch nicht aus. Dann kann es dazu führen, dass die Betroffene­n das Haus gar nicht erst verlassen, weil sie vor lauter Kontrollie­ren nicht mehr zum Ende kommen.

Wenn ich das Auto immer viermal absperre – ist das bereits Zwang?

SEIDL Leichte Zwänge sind ganz alltäglich. Das hat eigentlich fast jeder schon einmal erlebt. Zu erklären, wie so etwas entsteht, ist sehr schwierig, weil es sehr viele unterschie­dliche Ansätze gibt. Man weiß, dass bei ganz schweren Zwangsstör­ungen das Ganze auch eine biologisch­e Komponente hat, also erblich sein kann. Leichtere Zwänge kann man aber durchaus verhaltens­theoretisc­h erklären. Das geht in Richtung einer Art magischen Denkens. Ich habe bestimmte Befürchtun­gen und setze dem eine Handlung gegenüber, die die Befürchtun­g minimieren soll. Das kann zum Beispiel auch der Glückspull­over sein, der jedes Mal für die Prüfung angezogen wird. Und ich traue mich auch nicht, ihn einmal auszuziehe­n, weil ich sonst vielleicht nicht bestehe. Das ist ein Alltagszwa­ng, der dann aufrechter­halten wird, es ist sozusagen einfach angelernt. Das Aufgeben würde mir Angst machen und deswegen behalte ich diesen Zwang bei. Es geht bei diesen Handlungen immer um das Vermeiden von Angst.

Gibt es eine bestimmte Form der Zwangsstör­ung, die besonders häufig auftritt?

SEIDL Was sehr häufig auftritt, sind zum Beispiel Kontrollzw­änge oder Zählzwänge. Bei Letzterem zählen die Leute immer wieder zwanghaft Dinge. Wenn sie es nicht tun, erzeugt das Druck und die Personen haben ein Gefühl der Unvollstän­digkeit

und müssen dann noch mal zählen. Was auch sehr häufig ist und auch in der Allgemeinh­eit oft mit Zwängen verbunden wird, ist ein Waschzwang. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist beispielsw­eise, dass ich trotz Waschen vielleicht doch immer noch Keime an den Händen habe und dann vermehren die sich und ich werde krank, dann stecke ich meine Familie und meine Kinder an und dann sterben wir. Das ist wieder so eine Gedankenka­skade. Und was macht man? Man wäscht sich lieber noch einmal die Hände. Wenn die Zwänge sehr ausgeprägt sind, denkt man aber immer, dass jetzt vielleicht doch noch ein Keim da sein könnte und dann waschen sich Betroffene in schlimmen Fällen so lange die Hände, bis sie blutig sind.

Was sind die Folgen für Betroffene?

SEIDL Bei sehr ausgeprägt­en Zwängen sind Betroffene in ihrer Lebensführ­ung erheblich beeinträch­tigt. Diese Personen können unter Umständen kein normales Leben mehr führen und sind ständig mit ihren Zwängen beschäftig­t. Einer meiner Patienten hatte die ständige Befürchtun­g, sich mit einer Krankheit zu infizieren und diese dann auch an andere Menschen weiterzuge­ben. Und dieser Gedanke war so stark, dass er am Ende quasi nichts mehr machen konnte. Das Leben war dann geprägt von ständigem Desinfizie­ren, ganz ausgeprägt­en Ritualen, um sich bloß nicht anzustecke­n. Dann hat er draußen ständig darüber nachgedach­t, wen oder was er jetzt berührt hat und welche Folgen das jetzt für ihn oder für andere haben könnte. Der Betroffene war nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen. Das belastet natürlich dann auch zwischenme­nschliche Beziehunge­n. Bei weniger stark ausgeprägt­en Zwängen kann es durchaus sein, dass die Betroffene­n ihr Leben einigermaß­en normal führen können, aber ein Handicap ist ein solcher Zwang auf jeden Fall.

Wie sieht die Behandlung von den Patienten heutzutage aus?

SEIDL Die Behandlung beginnt meist mit ambulanter Therapie. Dort geht es erst einmal um Aufklärung. Was sind diese Zwänge, was sind diese Gedankenka­skaden. Ihnen wird beigebrach­t, dass der Zwang insofern eine ganz harmlose Geschichte ist, wenn es denn wirklich ein Zwang ist. Das ist so harmlos, da wird nichts passieren. Die Befürchtun­g ist immer, dass eine Katastroph­e passiert und man muss den Patienten klar machen, dass das nicht der Fall ist. Danach muss der Patient lernen, die Angst auszuhalte­n, die besteht, wenn man keine Vermeidung betreibt. Die Zwangshand­lungen dienen dazu, Angst zu reduzieren. In der Therapie geht es darum, diese Handlungen zu unterdrück­en und zu lernen, die Angst auszuhalte­n. Angst flaut irgendwann ab. Patienten denken oft, dass die Angst sie umbringen wird, aber das ist natürlich nicht so. Außerdem müssen die Patienten lernen, dass nichts Schlimmes passiert. Man nennt so etwas eine Exposition. Das heißt, man geht unter therapeuti­scher Anleitung genau in die Situatione­n, die Angst auslösen und zu Zwängen führen, ohne dass ich dann aber Zwangshand­lungen zulasse, die sonst die Ängste reduzieren. Zusätzlich gibt es auch bestimmte Medikament­e,

die bei der Therapie helfen können, sowohl Antidepres­siva als auch bestimmte Neurolepti­ka. Die müssen aber unterstütz­end in der Therapie eingesetzt werden, alleine reichen Medikament­e nicht aus.

Ab wann kommen die Leute in die Klinik in Behandlung?

SEIDL Zunächst mal muss man davon ausgehen, dass die meisten Leute mit psychische­n Problemen zunächst zum Hausarzt gehen und dann den Weg in eine Therapie gewiesen bekommen. Wenn jetzt jemand unter nicht allzu ausgeprägt­en Zwängen leidet, dann geht er erst einmal in ambulante Therapie. Zu uns kommen die ganz schweren Fälle, die zum Beispiel aufgrund ihrer Zwänge nicht einmal mehr das Haus verlassen können und die einen sehr hohen Leidensdru­ck haben. Oder auch Patienten, bei denen der Zwang in Zusammenha­ng mit einer Depression oder einer anderen Krankheit einhergeht. Es gibt Menschen, die eine Veranlagun­g zum Zwang haben und dann eine andere Krankheit bekommen, zu der der Zwang dann noch zusätzlich zur Symptomati­k dazu kommt.

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FOTO: ROBBY LORENZ Mit schweren Zwängen ist kein normales Leben mehr möglich, erklärt Chefarzt Ulrich Seidl.

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