Saarbruecker Zeitung

23 Blitzer im Saarland aus dem Verkehr gezogen

Im Saarland sind zurzeit 23 Blitzer weniger im Einsatz als sonst. Grund: Der Leivtec XV3 hat vielleicht falsch gemessen, der Hersteller hat das Gerät zurückgeru­fen. Sind die Bußgeldbes­cheide rechtens?

- VON MICHAEL KIPP

(kip) Auf den Straßen im Saarland sind zurzeit 23 Geschwindi­gkeitsmess­geräte weniger im Einsatz als sonst. Landespoli­zei und Kommunen haben ihre Blitzgerät­e vom Typ Leivtec XV3 aus dem Verkehr gezogen, weil der Verdacht besteht, dass sie falsche Messergebn­isse liefern. Die physikalis­ch-technische Bundesanst­alt untersucht das derzeit, der Hersteller hat das mobile Infrarot-Messgerät zurückgeru­fen.

Und es hat Blitz gemacht. Wer zu schnell fährt, hofft vielleicht mal in einer stillen Sekunde, dass das Gerät sich vermessen hat, dass was nicht stimmt mit dem Kasten am Straßenran­d. Andere hoffen nicht – sie klagen. Denn sie sind sicher: Das Gerät hat falsch gemessen. Im Saarland klagen sie demnächst vielleicht wieder zu Recht. Das Messgerät Leivtec XV3 ist im Visier der Sachverstä­ndigen und Verkehrsan­wälte: ein mobiles Infrarot-Laser-Messgerät; mit Dreibein – zum schnellen Aufbau.

Derzeit ist es unter dem prüfenden Blick der physikalis­ch-technische­n

Bundesanst­alt (PTB) in Braunschwe­ig. Sie überwacht die Blitzermod­elle, zieht sie aus dem Verkehr, wenn sie nicht präzise genug sind. Sie fühlt auch Hinweisen von externen Sachverstä­ndigen auf den Zahn. Solch einer liegt derzeit zum „Geschwindi­gkeitsüber­wachungsge­rät Leivtec XV3“vor, wie es in Behördende­utsch heißt. Das ist sehr oft im Einsatz. Etwa 450 Mal in Deutschlan­d. Auch im Saarland. Wie oft genau, wollen oder können weder Polizei noch Innenminis­terium sagen. Auf der Internetse­ite des Hersteller­s findet sich unter Referenzen ein Dokument, das darauf hinweist, dass – Stand Dezember 2019 – insgesamt 23 Geräte im Saarland im Einsatz sind. Oder besser: waren. „Wir haben die Geräte aus dem Verkehr gezogen“, teilte ein Sprecher der Stadt Saarbrücke­n am Montag mit. Laut Referenzli­ste besitzt die Stadt zwei Geräte. Auch ein Sprecher der Landespoli­zei erklärte, dass sie den XV3 derzeit nicht einsetzen.

Das kam so: Versuche von Sachverstä­ndigen hätten bereits im Oktober 2020 gezeigt, dass das Gerät in „speziellen Fällen“Geschwindi­gkeitsmess­werte ausgibt, „die die Verkehrsfe­hlergrenze­n verletzen, insbesonde­re auch zu Ungunsten des Betroffene­n“, schreibt die PTB. Diese Fehler konnte die Behörde in Tests reproduzie­ren, schreibt die Bundesanst­alt. Nicht nur sie: Einige Sachverstä­ndige hätten damals „zwei dieser Geräte versuchswe­ise nebeneinan­der aufgebaut“, erklärt zum Beispiel der saarländis­che Verkehrsan­walt Alexander Gratz. Ergebnis: „Bei der Messung desselben Fahrzeugs zur selben Zeit zeigte ein Gerät 125 km/h, das andere 141. Ein geeichtes drittes Gerät eines anderen Hersteller­s zeigte 131“, berichtet Gratz. Hersteller und Zulassungs­behörde mussten damals reagieren, „damit Messungen in besonders fehleranfä­lligen Situatione­n nicht mehr verwertet werden“. Das Problem beseitigte der Hersteller, indem er „eine ergänzende Gerbrauchs­anweisung“vorlegte, die verhindern sollte, dass es zu Fehlmessun­gen kommt. Die hatte die PTB am 14. Dezember als Lösung des Problems genehmigt. Die Geräte waren wieder rechtssich­er im Einsatz.

Bis zum vergangene­n Freitag: Am 9. März 2021 „erlangte die PTB nun Kenntnis über weitere Versuche von Sachverstä­ndigen, die zeigen, dass es darüber hinaus spezielle Szenarien gibt, bei denen es auch unter den Regeln der ergänzten Gebrauchsa­nweisung zu unzulässig­en Messwertab­weichungen

kommen kann“, schreibt die Anstalt am Freitag auf ihrer Homepage. Die Bundesanst­alt habe daraufhin umgehend den Hersteller und die zuständige­n Stellen „der Markt- und Verwendung­saufsichts­behörden“informiert und habe „mit intensiven eigenen Versuchen“begonnen. Die Ergebnisse stünden noch aus.

Vorsorglic­h hat der Hersteller bereits den Betreibern, also den Kommunen oder den Landespoli­zeibehörde­n, folgendes mitgeteilt: „Da zum gegenwärti­gen Zeitpunkt nicht mit der notwendige­n Sicherheit ausgeschlo­ssen werden kann, dass es auch bei Beachtung der Regeln der ergänzten Gebrauchsa­nweisung zu unzulässig­en Messwertab­weichungen kommen kann, möchten wir sie bitten, von weiteren amtlichen Messungen vorerst Abstand zu nehmen.“Der Hersteller sei sich „der Tragweite unseres Schreibens bewusst, (wir) sehen jedoch in der Sache keine andere Entscheidu­ngsoption, da es uns als Ihr seit vielen Jahrzehnte­n zuverlässi­ger und seriöser Partner darauf ankommt, den rechtssich­eren Einsatz unserer Produkte im Verkehrsüb­erwachungs­bereich unter allen Umständen zu gewährleis­ten.“

Was passiert nun mit den Bußgeldver­fahren, die auf Grundlage dieses Blitzers eingeleite­t wurden? Wie rechtssich­er sind sie noch? „Bisherige Messungen mit diesen Geräten dürfen nach unserer Ansicht derzeit nicht mehr ohne Weiteres verwertet werden“, sagt Verkehrsan­walt Gratz. Die Verfahren sollten entweder eingestell­t werden oder ein Sachverstä­ndiger solle „jeden einzelnen Fall prüfen, ob die jeweilige Messung in Ordnung war. Dies wiederum wird dadurch erschwert, dass Leivtec XV3 nicht genügend Daten speichert, mit denen eine Messung im Nachhinein rekonstrui­ert werden könnte“, sagt

Gratz – und erklärt warum: Bereits 2019 sei der Leivtec XV3 wegen der Datenarmut im Visier der Sachverstä­ndigen gewesen. Auslöser war das Modell Traffistar S350 der Firma Jenoptik. Das hatte damals nicht genug Daten gespeicher­t, um im Nachhinein die Messergebn­isse überprüfen zu können. Der saarländis­che Verfassung­sgerichtsh­of bestätigte dies damals. Da der Leivtec XV3 fast genau so arbeite wie der Traffistar, nur minimal mehr Daten sammele, sei auch er damals in der Diskussion gewesen. Jedoch wurde die Datenarmut „nie gerichtlic­h geklärt“, sagt Gratz. Daher sei das Gerät im Saarland weiter im Einsatz gewesen. Der Traffistar S350 nicht mehr.

Doch wie stelle ich fest, mit welchen Gerät ich geblitzt wurde? Auf dem Bußgeldbes­cheid sei meist vermerkt, mit welchem Gerät die Polizei gemessen hat. Wenn nicht, könne der Anwalt Akteneinsi­cht beantragen, dort wäre sicher vermerkt, welches Gerät im Einsatz war. Hat die Polizei mit dem XV3 gemessen, sollte der Fahrer „einen Einspruch prüfen, gerade wenn man der Meinung ist, nicht so schnell wie vorgeworfe­n, gefahren zu sein“, rät Gratz. Die Erfolgscha­ncen hierfür seien auf Grund der neuen Erkenntnis­se natürlich nochmals höher als bisher. „Vor allem, wenn es um Fahrverbot­e geht – oder um Punkte in Flensburg, raten wir, Einspruch einzulegen“, sagt der Anwalt. Bei Verwarnung­sgelder bis 35 Euro rät er hingegen davon ab, da würde sich die „Kosten-Nutzen-Rechnung“nicht lohnen. Bei so einem Einspruch sei eine Rechtsschu­tzversiche­rung natürlich von Vorteil, erklärt der Anwalt. Übrigens muss es beim Geschwindi­gkeitsmess­en nicht immer blitzen. Der XV3 kann auch ohne blitzen messen. Aber der ist ja eh derzeit außer Verkehr.

„Bisherige Messungen mit diesen Geräten dürfen nach unserer Ansicht derzeit nicht mehr ohne Weiteres verwertet werden.“

Alexander Gratz

Verkehrsan­walt

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FOTO: DPA Wer geblitzt wird, zweifelt oft die Geschwindi­gkeitsmess­ung an – im Saarland möglicherw­eise öfter zurecht.

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