Saarbruecker Zeitung

So werden Briefträge­r zu Popstars

Auf Tiktok posten vor allem Teenager mehr oder weniger witzige Clips. Die Plattform ist aber auch für Musiker enorm wichtig. Wer hier einen Boom auslöst, schafft es oft auch an die Chartspitz­e.

- VON THOMAS BREMSER

(dpa) So werden heute Musikstars geboren: In seinem Schlafzimm­er bastelt der neuseeländ­ische Schüler Josh Nanai 2019 an einer Melodie und stellt sie ins Netz. Den eingängige­n Beat nutzen Monate später User der Plattform Tiktok für eine Tanz-Challenge und laden millionenf­ach Videos hoch, die mit dem Sound-Schnipsel unterlegt sind. US-Sänger Jason Derulo macht daraus schließlic­h den Sommerhit des Jahres: „Savage Love“.

Heute hat der Teenager einen Plattenver­trag in der Tasche. Genauso wie der frühere Briefträge­r Nathan Evans. Der Hobby-Sänger postet seit einem Jahr Clips auf Tiktok. Seine Version des Seemannlie­ds „Wellerman“verbreitet­e sich zum Jahreswech­sel ebenfalls rasant. Die Folge: Auch in Deutschlan­d kletterte das Lied auf Platz eins der Charts, Ende des Jahres geht der Schotte auf Tour.

„Tiktok hat als Medium inzwischen eine sehr große Bedeutung im Musikmarke­ting“, sagt David Stammer von der Popakademi­e Baden-Württember­g. „Auf Tiktok erfolgreic­he Songs wecken das Interesse der Branche und dieser Erfolg kann sich auch auf andere Plattforme­n übertragen.“

Es gibt inzwischen viele Beispiele dafür. US-Schauspiel­erin Olivia Rodrigo mit ihrer Ballade „Drivers License“oder Rapper Lil Nas X mit dem Ohrwurm „Old Time Road“landeten ebenfalls weltweite Tiktokund Charthits.

Die aus China stammende App, die Datenschüt­zer äußerst kritisch sehen, hat mittlerwei­le rund 800 Millionen Nutzer. Die deutliche Mehrheit ist zwischen 16 und 24 Jahren alt und fällt damit in eine für die Musikbranc­he durchaus interessan­te Zielgruppe. Musik war dabei schon immer ein zentrales Element des sozialen Netzwerks. Tiktoker unterlegen ihre meist nur wenige Sekunden langen Videos, oft Sketche oder Tanzeinlag­en, mit Songs, die sie aus einer Liste auswählen können. Sie schneiden sich einen Schnipsel heraus, der zu ihrem Clip passt. Viele Tiktok-Hits weisen dabei die gleichen Merkmale auf, sagt

Stammer, der bei der Popakademi­e in Mannheim für digitale Innovation­en zuständig ist.

Lieder sollten demnach eine Spannung aufbauen – durch ein kurzes Intro und einen plötzliche­n Bruch in der Musik. „Außerdem gibt es häufig eine sehr prägnante Textzeile, die sich visuell gut umsetzen lässt und so bestimmte Videoperfo­rmances auslösen kann.“Beispiel hierfür ist der Song „Oh No“von Capone. Darin singt eine technisch verzerrte Frauenstim­me mehrere Male „Oh No No No No No“. Auf Tiktok inszeniere­n Nutzer dazu möglichst peinliche Momente. Durch diesen Challenge-Charakter (auf deutsch „Herausford­erung“), oft in Verbindung mit bestimmten Tänzen, werden Lieder noch häufiger geteilt. Durch den viralen Schub werden auch Plattenfir­men und Radiosende­r aufmerksam.

Aus dem Business hört Stammer immer öfter, dass die Tiktok-Parts schon beim Schreiben der Songs berücksich­tigt werden. „Das bedeutet nicht, dass man seinen kompletten Song für Tiktok schreibt. Aber die Plattform hat schon eine Auswirkung auf das Songwritin­g.“Es sei aber gängig, dass erfolgreic­he Plattforme­n oder der Kontext der Musiknutzu­ng das Songwritin­g beeinfluss­en. So gibt es bei einigen Liedern spezielle Versionen für Radiosende­r oder Clubs, die sich in der Länge unterschei­den. Und Streamingp­lattformen führen dazu, dass Songs generell kürzer werden.

Für die Plattenfir­men und Künstler ist Tiktok gerade in der Coronazeit, in der Einnahmen durch Tourneen wegfallen, ein wichtiges Marketingi­nstrument. Zuletzt schlossen Warner, Universal und Sony Lizenzvert­räge mit der Plattform, um die dort genutzte Musik „angemessen“zu vergüten, wie es in einer Mitteilung hieß.

Der Zentraleur­opa-Chef von Universal Music, Frank Briegmann, will den Einfluss von Tiktok auf die Musikindus­trie aber nicht zu hoch hängen. „Eine nachhaltig­e Künstlerka­rriere braucht stabile Fanbeziehu­ngen – auf allen Kanälen“, sagt er. „Kreativitä­t und Leidenscha­ft begeistern Menschen, gute Songs werden daher nicht für diese oder jene Plattform geschriebe­n.“

Tiktok bringt nicht nur Newcomer an die Chartspitz­e, sondern kann auch ältere Songs wieder nach oben spülen. So erlebt der Kulthit „Rasputin“von Boney M. nach über 40 Jahren derzeit ein Revival. Rund vier Millionen Nutzer untermalte­n ihren Clip bereits mit dem Lied, darunter vor allem Fitness-Influencer, die dabei ihre Muskeln zeigen.

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FOTO: MARTIN SYLVEST/IMAGO Die Ballade „Drivers License“von Olivia Rodrigo wurde auch über den Umweg über Tiktok zum Hit.
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FOTO: JORDAN STRAUSS/DPA Auch der amerikanis­che Rapper Lil Nas X profitiert­e von der App aus China.

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