Saarbruecker Zeitung

Eine „Gin-Kirche“am Berliner Straßenstr­ich

Gin-Flaschen als Fensterver­glasung und eine Holzbox für Prostituie­rte vor dem Gotteshaus: In Berlin gibt es eine höchst ungewöhnli­che Kirche – mit großem sozialen Engagement.

- VON SILVIA KUSIDLO

Gin-Flaschen als Fensterver­glasung, eine Holzbox für Prostituie­rte vor dem Gotteshaus und ein Pastor im Fetisch-Look: Im Berliner Ortsteil Schöneberg gibt es eine höchst ungewöhnli­che Kirche – mit großem sozialen Engagement.

(dpa) Nur auf den ersten Blick scheint die Zwölf-Apostel-Kirche in Berlin ein ganz normales Gotteshaus zu sein. Doch wer genau hinschaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Bei vielen Berlinern ist das Bauwerk mitten im Prostituie­rten-Viertel im Ortsteil Schöneberg als „Gin-Kirche“bekannt – und das hat einen hochprozen­tigen Grund. Es ist aber nicht die einzige Kuriosität.

Bomben hatten im Zweiten Weltkrieg großen Schaden in der Kirche angerichte­t; auch die ursprüngli­che Verglasung war zerstört. Doch neue Scheiben waren damals nicht zu bekommen. Was also tun? Angehörige des Berliner Spirituose­nfabrikant­en Gilka setzten eine pfiffige Idee um: Sie spendeten Zehntausen­de – leere – Gin-Flaschen, die als Glasbauste­ine in die Fenster eingebaut wurden. Prompt bekam das Gotteshaus von den Berlinern den Spitznamen „Gin-Kirche“verpasst. Heute stehen die höchst ungewöhnli­chen Fenster unter Denkmalssc­hutz und locken Besucher sogar aus dem Ausland an.

Direkt vor der evangelisc­hen

Zwölf-Apostel-Kirche steht auf dem Bürgerstei­g eines von mehreren Kompost-Klos im Viertel, um die es mächtig Streit gibt: Tagsüber werden sie als Toiletten genutzt, vor allem in den Abend- und Nachtstund­en gehen aber viele Prostituie­rte mit ihren Freiern in die winzigen Holzboxen.

Prostituti­on in einem Klo vor der Kirche – muss das sein? „Das Problem ist, dass viele Freifläche­n, wo die Prostituie­rten früher mit ihren Freiern hingingen, durch den Bau von großen Immobilien verschwund­en sind“, berichtet Pfarrer Burkhard Bornemann. Irgendwohi­n müssten diese Frauen aber gehen. „Dass in der Toilette auch Prostituti­on betrieben wird, nehmen wir daher in Kauf.“

Werner Ruthenbeck von der Bürgerinit­iative „Lebenswert­er Kurfürsten­kiez“findet die Zustände

schlimm: „Der Kiez wird immer mehr durch Zuhälter und Gewalt bestimmt.“Sex auf Spielplätz­en sei ebenso nicht hinnehmbar wie im Kompost-Klo vor der Kirche. „Die Verwahrlos­ung nimmt zu“, so Ruthenbeck, der seit 35 Jahren im Kiez wohnt. „Die meisten Prostituie­rten kommen aus Rumänien und Bulgarien.“Etliche von ihnen seien minderjähr­ig und drogenabhä­ngig.

Vielen im Kiez ist das ein Dorn im Auge, sie fordern einen Sperrbezir­k. Davon hält die Bezirksbür­germeister­in von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler, nichts: Das würde nur zu „einem Abtauchen der Sexarbeite­nden in die Illegalitä­t“führen. Auch zu dem Sex der Prostituie­rten auf Klos wie vor der Kirche hat sie eine klare Meinung: besser so als für die Öffentlich­keit sichtbar.

Trotz Prostituti­on: Das Viertel rund um die „Gin-Kirche“mit seinen vielen Restaurant­s, Buchläden und Kultureinr­ichtungen gilt als trendig und ist vor allem in der queeren Szene beliebt. Auch Bornemann ist homosexuel­l und hat mit seiner Kirche kulturelle­s Neuland betreten: Sie ist Veranstalt­ungsort des jährlichen Konzerts „Classic Meets Fetish“– harte Kerle in Lack und Leder spielen klassische Lieder für Gleichgesi­nnte.

Unangepass­theit, Anderssein – das zieht sich wie ein roter Faden durch die etwa 150 Jahre alte Kirche und ihre Gemeinde. Das zeigt sich auch auf den farbigen Bleiglasfe­nstern des Gotteshaus­es. Auf einigen Bildern dort – etwa der Weihnachts­geschichte – ist neben Ochs‘ und Esel eine Katze zu sehen.

„Die Katze ist kein biblisches Tier“, sagt der Pfarrer. Doch der Künstler Alfred Kothe war ein Fan der Samtpfoten und wurde stets von einer Katze begleitet. Bornemann, der lieber Hunde mag und seine Möpse

Arthus und Paula gelegentli­ch mit in die Kirche bringt, findet es „toll, dass ein Künstler Ungewöhnli­ches macht“. Warum? „Das passt zu unserer Kirche.“

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FOTO: KUSIDLO/DPA Der Künstler Alfred Kothe war ein Katzenlieb­haber und verewigte die Samtpfoten in seinen Werken – obwohl sie keine biblischen Tiere sind.
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FOTO: KUSIDLO/DPA Die zerstörten Fenster der Zwölf-Apostel-Kirche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch leere Gin-Flaschen ersetzt.

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