Saarbruecker Zeitung

Theater Überzwerg feiert Premiere ohne Publikum

Das Theater Überzwerg hat Premiere gefeiert. Ohne Publikum, aber mit der Hoffnung, dass „Shut up!“bald zu sehen sein wird. Im Sommer gibt es auch wieder Hof-Theater.

- VON ISABELL SCHIRRA

Kita-Schließung­en, Distanzunt­erricht, Kontaktbes­chränkunge­n: Dass diese Pandemie auch die Kleinsten der Gesellscha­ft großen Belastunge­n aussetzt, ist längst kein Geheimnis mehr. Dass wir ihnen aber auch ansonsten, ganz ohne Corona, einiges zumuten, gerät dabei gerne einmal in Vergessenh­eit. Diejenigen, die nicht ganz der Norm entspreche­n, gleich als Problemkin­der zu klassifizi­eren, ist eine dieser Zumutungen.

Mit dem Stück „Shut up!“der belgischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll nimmt das Saarbrücke­r Kinderund Jugendthea­ter Überzwerg sich der Geschichte dreier solcher vermeintli­cher Problemkin­der an.

Bei Damien begann alles, als er vier war. Seine Lunge war nicht „in Ordnung“, an Sport sei nicht zu denken, attestiert­en ihm die Ärzte. Als Damien daraufhin wütend wurde, folgte die nächste Diagnose: „Das ist doch nicht normal, den sollten sie mal auf ADHS testen lassen.“Seither versucht man, Damiens überschüss­ige Energie wie seine überborden­de Fantasie mit Tabletten der gesellscha­ftlichen Norm anzupassen. Ein besonderer Dorn im Auge ist Damien Dr. Mann, die Schulärzti­n. „Immerzu sagt sie: Ich verstehe das“, moniert er.

Selbige Ärztin attestiert Damiens Klassenkam­eradin Becky, die im Unterricht zwar nicht immer mitkommt, sich in ihrer Freizeit allerdings als verständni­svoll, verantwort­ungsbewuss­t und klug erweist, „lernbehind­ert“zu sein.

Weder der Gesellscha­ft, noch ihren Eltern oder Lehrern – Becky und Damien scheinen niemandem zu genügen, außer dem jeweils anderen. Denn sie sind BFF – „best friends forever“. Wo niemand da ist, stärken sie sich den Rücken, passen aufeinande­r auf, träumen gemeinsam und finden kindliche Energiekat­alysatoren.

Als ihre Klasse eines Tages den nächsten „gestörten“Neuzugang bekommt, François, einen Jungen mit autistisch­en Zügen, für den es bereits der siebte Schulwechs­el ist, nehmen sich Becky und Damien seiner an.

„Shut up!“erzählt eine Geschichte über Zusammenha­lt und große Freundscha­ft: In weiten Teilen bringt sie zum Lachen, etwa wenn François seine Mutter zurückhole­n will, indem er ihrem neuen Partner 500-mal sagt, dass er stinkt, oder das Dreiergesp­ann einen Weltrekord anmelden will. „In keiner Klasse gibt es so viele Gestörte wie in unserer“, sagen sie.

Nicolas Bertholet als François, Anna Bernstein als Becky und Sabine Merziger als Damien zeigen in ihrem Spiel, wie es sich anfühlt, nie genug zu sein, nicht hineinzupa­ssen in diese Welt, angesehen zu werden „wie ein Scheißhauf­en“, wie Damien sagt – sie sorgen aber auch für nachdenkli­che, ja tief-traurige Momente.

„Es gibt Leute, die sagen, dieses Stück wäre nichts für Kinder“, sagt Bob Ziegenbalg, künstleris­cher Leiter des Überzwerg. „Das ist natürlich Quatsch, da muss man hintendran ein Gespräch anfügen, das Ganze kontextual­isieren“, ergänzt er. „Ihr müsst nicht alles glauben, was sie euch in der Schule erzählen“– das sagt Ziegenbalg in seiner Rolle des Herrn Alphenaar, eines Nachbarn der Schule, eines einstigen Problemkin­des

und heutigen Star-Musikers, selbst zu den drei Freunden. „Und genau deshalb gehört dieses Stück auch in die Schulen“, bemerkt Ziegenbalg. Daran ist aber fürs Erste nicht zu denken. Die Premiere von „Shut up!“konnte nur intern abgehalten werden. Es ist nicht das erste Stück, dass das Theater Überzwerg produziert, ohne Gewissheit zu haben, wann es raus in die Welt getragen werden kann: „Wir sind die ganze Zeit tätig, stellen ein Stück nach dem anderen fertig.“

Ziegenbalg­s Puppenspie­l „Klein“nach dem gleichnami­gen, preisgekrö­nten Bilderbuch konnte im letzten Jahr gerade noch Premiere feiern, bevor der Lockdown kam. Die Stücke „Das Tagebuch der Anne Frank“und „Fast Faust“konnten zumindest in den Sommermona­ten viel an Schulen gespielt werden, erinnert sich Ziegenbalg, seitdem liegen auch sie im Pandemie-Schlaf.

„Des Kaisers neue Kleider“von Erhard Schmied nach Hans Christian Andersen war im Spielplan eigentlich schon im letzten Jahr vorgesehen. Damit – wie mit den Stücken „Monster“und „Wanze“– soll im Juni und Juli jetzt die Freilichtb­ühne bespielt werden, die das Überzwerg wie schon im letzten Sommer wieder auf seinem Hof errichten will.

Weder „Klein“noch „Shut up!“eignen sich allerdings für eine Aufführung draußen. „Ich hoffe, dass wir sie zumindest im Herbst bei geringerer Auslastung auch drinnen spielen können“, sagt Ziegenbalg. Ansonsten könne er nur hoffen, dass, wer ihm nachfolgt, zumindest „Shut up!“übernimmt. Denn für Ziegenbalg ist diese zweite Pandemie-Spielzeit seine letzte am Theater Überzwerg. Schmerzlic­her könnte ein Abschied wohl kaum werden.

„Man erzählt Geschichte­n für die

Zuhörer“, sagt Ziegenbalg, „wir vermissen unsere Gäste sehr schmerzlic­h.“

Und: „Wir haben es satt, Pläne zu machen, die wir immer wieder ändern müssen.“Er zitiert Brecht: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“

Und dennoch, auch bei all den Schwierigk­eiten will Ziegenbalg trotzdem nicht aufgeben. „Zur Not werde ich hier, sobald es möglich ist, auch Lesungen für zehn Menschen anbieten oder wieder digital etwas realisiere­n“, sagt er. Denn: „Im Abstand Nähe zu suchen, ist jetzt nötiger als je zuvor.“

„Man erzählt Geschichte­n für die Zuhörer, wir vermissen unsere Gäste

sehr schmerzlic­h.“

Bob Ziegenbalg Der Noch-Leiter des Theaters Überzwerg leidet in seiner letzten Spielzeit unter dem

Spielverbo­t. „Im Abstand Nähe zu suchen, ist jetzt nötiger

als je zuvor.“

Bob Ziegenbalg

will notfalls auch für zehn Leute lesen.

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FOTO: ?? Premiere ohne Zuschauer. Das Theater Überzwerg hat „Shut up!“fertiggest­ellt und jetzt sozusagen in den Schrank gestellt, bis das Stück hoffentlic­h bald unters Volk darf. Regie führte Matthias Mühlschleg­el, das Bühnenbild ist von Jasmin Kaege. Unser Foto zeigt Nicolas Bertholet bei der internen Premiere.
UWE BELLHÄUSER FOTO: Premiere ohne Zuschauer. Das Theater Überzwerg hat „Shut up!“fertiggest­ellt und jetzt sozusagen in den Schrank gestellt, bis das Stück hoffentlic­h bald unters Volk darf. Regie führte Matthias Mühlschleg­el, das Bühnenbild ist von Jasmin Kaege. Unser Foto zeigt Nicolas Bertholet bei der internen Premiere.
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FOTO: UWE BELLHÄUSER Zwei Außenseite­r oder – wie Damien sagt – „Gestörte“werden Freunde. Nicolas Bertholet und Sabine Merziger spielen in „Shut up!“.

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