Theater Überzwerg feiert Premiere ohne Publikum
Das Theater Überzwerg hat Premiere gefeiert. Ohne Publikum, aber mit der Hoffnung, dass „Shut up!“bald zu sehen sein wird. Im Sommer gibt es auch wieder Hof-Theater.
Kita-Schließungen, Distanzunterricht, Kontaktbeschränkungen: Dass diese Pandemie auch die Kleinsten der Gesellschaft großen Belastungen aussetzt, ist längst kein Geheimnis mehr. Dass wir ihnen aber auch ansonsten, ganz ohne Corona, einiges zumuten, gerät dabei gerne einmal in Vergessenheit. Diejenigen, die nicht ganz der Norm entsprechen, gleich als Problemkinder zu klassifizieren, ist eine dieser Zumutungen.
Mit dem Stück „Shut up!“der belgischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll nimmt das Saarbrücker Kinderund Jugendtheater Überzwerg sich der Geschichte dreier solcher vermeintlicher Problemkinder an.
Bei Damien begann alles, als er vier war. Seine Lunge war nicht „in Ordnung“, an Sport sei nicht zu denken, attestierten ihm die Ärzte. Als Damien daraufhin wütend wurde, folgte die nächste Diagnose: „Das ist doch nicht normal, den sollten sie mal auf ADHS testen lassen.“Seither versucht man, Damiens überschüssige Energie wie seine überbordende Fantasie mit Tabletten der gesellschaftlichen Norm anzupassen. Ein besonderer Dorn im Auge ist Damien Dr. Mann, die Schulärztin. „Immerzu sagt sie: Ich verstehe das“, moniert er.
Selbige Ärztin attestiert Damiens Klassenkameradin Becky, die im Unterricht zwar nicht immer mitkommt, sich in ihrer Freizeit allerdings als verständnisvoll, verantwortungsbewusst und klug erweist, „lernbehindert“zu sein.
Weder der Gesellschaft, noch ihren Eltern oder Lehrern – Becky und Damien scheinen niemandem zu genügen, außer dem jeweils anderen. Denn sie sind BFF – „best friends forever“. Wo niemand da ist, stärken sie sich den Rücken, passen aufeinander auf, träumen gemeinsam und finden kindliche Energiekatalysatoren.
Als ihre Klasse eines Tages den nächsten „gestörten“Neuzugang bekommt, François, einen Jungen mit autistischen Zügen, für den es bereits der siebte Schulwechsel ist, nehmen sich Becky und Damien seiner an.
„Shut up!“erzählt eine Geschichte über Zusammenhalt und große Freundschaft: In weiten Teilen bringt sie zum Lachen, etwa wenn François seine Mutter zurückholen will, indem er ihrem neuen Partner 500-mal sagt, dass er stinkt, oder das Dreiergespann einen Weltrekord anmelden will. „In keiner Klasse gibt es so viele Gestörte wie in unserer“, sagen sie.
Nicolas Bertholet als François, Anna Bernstein als Becky und Sabine Merziger als Damien zeigen in ihrem Spiel, wie es sich anfühlt, nie genug zu sein, nicht hineinzupassen in diese Welt, angesehen zu werden „wie ein Scheißhaufen“, wie Damien sagt – sie sorgen aber auch für nachdenkliche, ja tief-traurige Momente.
„Es gibt Leute, die sagen, dieses Stück wäre nichts für Kinder“, sagt Bob Ziegenbalg, künstlerischer Leiter des Überzwerg. „Das ist natürlich Quatsch, da muss man hintendran ein Gespräch anfügen, das Ganze kontextualisieren“, ergänzt er. „Ihr müsst nicht alles glauben, was sie euch in der Schule erzählen“– das sagt Ziegenbalg in seiner Rolle des Herrn Alphenaar, eines Nachbarn der Schule, eines einstigen Problemkindes
und heutigen Star-Musikers, selbst zu den drei Freunden. „Und genau deshalb gehört dieses Stück auch in die Schulen“, bemerkt Ziegenbalg. Daran ist aber fürs Erste nicht zu denken. Die Premiere von „Shut up!“konnte nur intern abgehalten werden. Es ist nicht das erste Stück, dass das Theater Überzwerg produziert, ohne Gewissheit zu haben, wann es raus in die Welt getragen werden kann: „Wir sind die ganze Zeit tätig, stellen ein Stück nach dem anderen fertig.“
Ziegenbalgs Puppenspiel „Klein“nach dem gleichnamigen, preisgekrönten Bilderbuch konnte im letzten Jahr gerade noch Premiere feiern, bevor der Lockdown kam. Die Stücke „Das Tagebuch der Anne Frank“und „Fast Faust“konnten zumindest in den Sommermonaten viel an Schulen gespielt werden, erinnert sich Ziegenbalg, seitdem liegen auch sie im Pandemie-Schlaf.
„Des Kaisers neue Kleider“von Erhard Schmied nach Hans Christian Andersen war im Spielplan eigentlich schon im letzten Jahr vorgesehen. Damit – wie mit den Stücken „Monster“und „Wanze“– soll im Juni und Juli jetzt die Freilichtbühne bespielt werden, die das Überzwerg wie schon im letzten Sommer wieder auf seinem Hof errichten will.
Weder „Klein“noch „Shut up!“eignen sich allerdings für eine Aufführung draußen. „Ich hoffe, dass wir sie zumindest im Herbst bei geringerer Auslastung auch drinnen spielen können“, sagt Ziegenbalg. Ansonsten könne er nur hoffen, dass, wer ihm nachfolgt, zumindest „Shut up!“übernimmt. Denn für Ziegenbalg ist diese zweite Pandemie-Spielzeit seine letzte am Theater Überzwerg. Schmerzlicher könnte ein Abschied wohl kaum werden.
„Man erzählt Geschichten für die
Zuhörer“, sagt Ziegenbalg, „wir vermissen unsere Gäste sehr schmerzlich.“
Und: „Wir haben es satt, Pläne zu machen, die wir immer wieder ändern müssen.“Er zitiert Brecht: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.“
Und dennoch, auch bei all den Schwierigkeiten will Ziegenbalg trotzdem nicht aufgeben. „Zur Not werde ich hier, sobald es möglich ist, auch Lesungen für zehn Menschen anbieten oder wieder digital etwas realisieren“, sagt er. Denn: „Im Abstand Nähe zu suchen, ist jetzt nötiger als je zuvor.“
„Man erzählt Geschichten für die Zuhörer, wir vermissen unsere Gäste
sehr schmerzlich.“
Bob Ziegenbalg Der Noch-Leiter des Theaters Überzwerg leidet in seiner letzten Spielzeit unter dem
Spielverbot. „Im Abstand Nähe zu suchen, ist jetzt nötiger
als je zuvor.“
Bob Ziegenbalg
will notfalls auch für zehn Leute lesen.