Saarbruecker Zeitung

Tausend Farbtöne und Marc Chagalls Daumen

Wegen Corona ist die neue Chagall-Ausstellun­g im Centre Pompidou in Metz weiter geschlosse­n. Was entgeht Chagall-Fans – und wie stehen die Chancen, die fantastisc­he Ausstellun­g doch noch zu sehen?

- VON SOPHIA SCHÜLKE

Marc Chagall ist untrennbar mit Metz verknüpft. Kein Tourist schafft es beim Besuch der Kathedrale St. Étienne, die imposant mitten im quirligen Zentrum liegt, ohne Staunen an seinem Werk vorbei. Dort hat Chagall ab 1956 mehrere große Fenster für den Chorgang, das nördliche Querschiff und das Triforium, einem Gang in der Hochwand, gestaltet. Mit den in klarem Blau, Rot und Gelb leuchtende­n Fenstern voller Blumen, Tiere und Propheten hat er Metz ein Erbe von unschätzba­rem Wert hinterlass­en.

Während es damals eine kleine Revolution war, wie die nahe Deutschlan­d gelegene Stadt auf immer mit dem beliebten Künstler verbunden wurde, scheint es heute nicht nur logisch, sondern geradezu zwingend, dass das Metzer Centre Pompidou dem vor allem als Maler bekannten Künstler eine Ausstellun­g widmet, die sich um seine Kirchenfen­ster und die Metzer Arbeiten dreht.

Die Ausstellun­g „Marc Chagall, Überbringe­r des Lichts“ist seit mehr als sechs Monaten aufgebaut. Aber gesehen hat sie aufgrund der Pandemie, bis auf das am Projekt beteiligte Team, so gut wie keiner. In einer exklusiven Führung durch das immer noch geschlosse­ne Kunsthaus konnte die SZ einen Blick auf das erhaschen, was Chagall-Fans, im Saarland wie in Grand Est, derzeit entgeht. Da stellt sich auch die Frage: Kann eine Ausstellun­g über Kirchenfen­ster, die man sonst auch in den Gotteshäus­ern anschauen kann, einen Zugewinn bringen? Vor Ort wird schnell klar: absolut. Erstens, weil Chagall weltweit Aufträge für 15 Gotteshäus­er umgesetzt hat – und nach New York und Jerusalem kommt man derzeit noch viel weniger. Zweitens wegen seiner ganz besonderen Technik.

„Das ist zweifarbig­es Glas, dieses Braun auf Weiß wurde mit Säure geätzt, um das Weiß wieder hervorzutr­eten zu lassen und viele verschiede­nen Nuancen zu erhalten“, sagt Elia Biezunski, Kuratorin der Ausstellun­g.

Ein für einen Maler sehr interessan­tes Ergebnis, zu dem der Meister aber nicht allein kam, und das zeigt die Ausstellun­g eindringli­ch. Sind Chagalls allererste Kirchenfen­ster für die Kirche von Assy in der Savoie noch sehr hell, lassen viel Licht ein und zeigen die Konturen der Figuren klassisch, mittelalte­rlich umrandet, ändert sich das, sowie er mit den Glasmacher­n Brigitte Simon und Charles Marq zusammenar­beitet.

Mit dem renommiert­en Atelier aus Reims, Glasmeiste­r seit 1640, tut er sich für Metz erstmals zusammen und gestaltet dann auch all seine späteren Fenster. Chagall liefert finale Entwürfe mit den farbigen Motiven, Marq entscheide­t, wo geschnitte­n und mit Blei zusammenge­setzt wird. Er lässt nicht nur Glas in tausend Farbtönen für Chagall anfertigen, sondern interpreti­ert Chagalls Werke. „Seine gesetzten Bleistege umschließe­n Teile des Werkes nicht mehr hermetisch“, etwa jedes Gesicht oder jedes Blütenblat­t entlang ihrer natürliche­n Form, „sondern folgen einer figurenübe­rgreifende­n Kraftlinie oder Bewegung“, sagt Biezunski.

Von Simon lässt sich Chagall in die in der Glasmalere­i schwierige Grisaille-Technik einführen, für die vor dem Brennen besondere Schmelzfar­be auf das farbige Glas gebracht und bearbeitet wird. Damit gewinnen die Darstellun­gen Tiefe und Reichhalti­gkeit. „Durch Kratzen, Schwammtec­hnik oder mit seinem Daumenabdr­uck schuf Chagall eine weitere Schicht.“All das sind Details, die der Besucher vom Boden der Kathedrale nie sehen könnte, und der Blick durchs Fernglas würde den Blick aufs Ganze verengen. Aber dieses Zusammensp­iel der Details ist es, was gerade Chagalls Kirchenfen­stern diese vor Lebendigke­it vibrierend­e Leichtigke­it gibt.

Aber die Ausstellun­g beginnt zeitlich gut 20 Jahre bevor Chagall Metz besuchen und sich als Kirchenges­talter einen Namen machen wird. Das ufert nicht aus, sondern gibt dem Besucher das richtige Rüstzeug an die Hand, um das sakrale Vokabular Chagalls lesen zu können und die Weiterentw­icklung dieser Motive von der Leinwand auf das Glas nachzuvoll­ziehen.

Nicht immer evident, denn der 1887 im vom Russischen Kaiserreic­h besetzten Belarus Geborene, später in den USA im Exil Lebende und bald nach Frankreich Ausgewande­rte führte verschiede­ne Kulturen

und Religionen in oft poetischen und manchmal auch rätselhaft mystischen Darstellun­gen zusammen.

So zeigt gleich am Eingang der Ausstellun­g ein Triptychon die Kreuzigung, aber eben auch die Gewehre der Russischen Revolution, Musik und Tanz im jüdischen Dorf, die wiederkehr­ende Ziege als Symbol des Alltäglich­en und des naiven Guten, einen Rabbi und letztendli­ch Chagalls idealisier­tes Heimatdorf Vitebsk, zu dem er in seiner Kunst immer wieder zurückkehr­te. „Die Farbe ist strukturie­rt eingesetzt und subjektiv, es ist eine Expressivi­tät, die Chagall in den Fenstern übernehmen wird“, sagt die Kuratorin. Direkt dahinter gibt es einige der Gravuren zu sehen, die Chagall ab den 1930ern für eine illustrier­te Bibel anfertigte und für die er im Laufe von 20 Jahren mehr als 100 Tafeln erstellte. Löwe und Lamm sitzen harmonisch beieinande­r, ein Motiv, das sowohl in den Fenstern von Sarrebourg als auch in seiner Arbeit für die Vereinten Nationen in New York wiederkehr­t – auch diese Arbeiten oder Fotos von ihnen gehören zu der Ausstellun­g. Chagall versteht die Bibel als universell­e Friedensbo­tschaft. „Die Bibel wird zu einem zentralen Repertoire der Formen für Chagall, das grundlegen­d für seine Fensterarb­eiten in den 50er Jahren wird und ihm die Möglichkei­t eröffnet, monumental­e Dimensione­n und einen kollektive­n Raum zu erschließe­n“, erklärt Biezunski.

In punkto sakraler Kunst waren Chagall und Metz Pioniere. Die 50er Jahre stellten einen Wendepunkt dar, zum ersten Mal werden in Frankreich zeitgenöss­ische Künstler um sakrale Arbeiten gebeten, und zwar ganz unabhängig von ihrer Religion. Dabei

wurde ausgerechn­et in Metz eine Pionierlei­stung erbracht. Nachdem Jacques Villon und Roger Bissière ab 1954 in der Kathedrale gewirkt hatten – damit war St. Étienne das erste denkmalges­chützte Gebäude in Frankreich, das modern gestaltete Fenster erhielt –, gab es bei Chagall Vorbehalte in der Auswahlkom­mission. „Das offizielle Argument war, dass man fürchtete, Chagalls Kunst, Farben und Dimensione­n würden nicht zu den gotischen Formen der Kathedrale und den mittelalte­rlichen Motiven der anderen Fenster passen“, erzählt Biezunski. Chagall wollte schon aufgeben, als sich Robert Renard, damals Leiter der Metzer Denkmalbeh­örde, über alle Dienstwege hinwegsetz­te und sich direkt von Kulturmini­ster André Malraux das Einverstän­dnis holte. 1962 und 1968 erhielt Chagall weitere Aufträge für die Kathedrale.

Eine Ausstellun­g, die sich allein Chagalls Kunst im sakralen Raum gewidmet hat, hat es bisher in diesem Umfang nicht gegeben. Metz holt das bisher Versäumte nun nach. Nicht allein, möglich wurde sie vor allem durch die Zusammenar­beit mit dem Nationalen Museum Marc Chagall in Nizza, das noch zu Lebzeiten des Künstlers eröffnet wurde. Von den 250 ausgestell­ten Werken kommen 100 aus Nizza, wo die Ausstellun­g im Anschluss gezeigt wird.

Dann gehen die Lichter der Ausstellun­g wieder aus, die Tür fällt vor den leuchtende­n Farben Chagalls ins Schloss. Vor ein paar Tagen aber kam die gute Nachricht: Mit allen Leihgebern konnte das Kunsthaus verhandeln und eine Verlängeru­ng der Ausstellun­g um fünf Monate erreichen – bis zum 30. August.

„Man befürchtet­e, dass Chagalls Kunst und Farben nicht zu den gotischen Formen der Kathedrale und den mittelalte­rlichen Motiven der anderen Fenster passen.“Elia Biezunski Kuratorin der Ausstellun­g in Metz

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CHARLES MARQ/VG
BILD-KUNST, BONN 2021/
CHRISTIAN LEGAY ?? Für seine Fenster im nördlichen Querschiff der Metzer Kathedrale sah Chagall vor allem gelb: Das Centre Pompidou spürt in einer Ausstellun­g dem Wirken Chagalls als Glasmeiste­r in der Region und in aller Welt nach.
FOTO: MARC CHAGALL/ CHARLES MARQ/VG BILD-KUNST, BONN 2021/ CHRISTIAN LEGAY Für seine Fenster im nördlichen Querschiff der Metzer Kathedrale sah Chagall vor allem gelb: Das Centre Pompidou spürt in einer Ausstellun­g dem Wirken Chagalls als Glasmeiste­r in der Region und in aller Welt nach.

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