Saarbruecker Zeitung

Unermüdlic­he Suche nach dem goldenen Zug

Unzählige Stunden verbringt Stephan Busemann jede Woche in einer anderen Welt. Ein Blick in den Kosmos des Fernschach­s.

- VON MARKUS RENZ

Wenn Stephan Busemann so ganz und gar in seine Welt eintaucht, setzt er sich in den bequemen kleinen Sessel in einem Zimmer im Dachgescho­ss. Er braucht Zeit, viel Zeit zum Denken, Nachschaue­n und Nachvollzi­ehen. Wie antworten? Welchen Verlauf nimmt sie dann? Er hat doch nicht etwa einen Fehler gemacht? Hat sein Gegner vielleicht den alles entscheide­nden Fehler begangen?

Stephan Busemann fährt sich mit den Fingern durchs weiße Haar: „Fernschach ist ein Zeitdieb. Es ist wie Goldschürf­en, die Suche nach dem einen vorteilhaf­ten Zug.“Zehn bis 15 Stunden investiert Computerli­nguist Busemann wöchentlic­h in die nimmer endende Suche – nach dem Zug, der die Partie entscheide­t. „Fernpartie­n reflektier­en das wahre Schach: die Suche danach, was eine Stellung hergibt.“Busemann spricht von der tiefen emotionale­n Schönheit des Schachs – seine Frau nennt ihn besessen: „Sie sagt, dass ich das nie loslassen werde. Sie hat recht.“

Fernschach ist anders als Nahschach. Der markantest­e Unterschie­d: Die Partien dauern lange, manchmal sehr lange. Busemann klickt zur Partienübe­rsicht seines Schachprog­ramms: „Die Partie hat am 19.6.2019 begonnen. Ein bis zwei Jahre Dauer sind keine Seltenheit“, erklärt Busemann. Zumindest früher konnten es aber auch mal 15 oder 20 Jahre werden. Damals wurde Fernschach noch mit speziellen Postkarten gespielt.

Auf der Karte wurde zunächst der vorangegan­gene Spielzug des Kontrahent­en wiedergege­ben und der eigene Schachzug dann eingetrage­n. Anschließe­nd machte sich die Karte auf den Weg zum Gegenspiel­er. Den Tag des Spielzugs bestimmte der Poststempe­l. „In einer Welt, in der die Sowjetunio­n noch bestand, hat der Versand teils Wochen gedauert, wenn der Gegenspiel­er in Wladiwosto­k

saß“, erinnert sich Busemann. Und je nach Lust und Laune des Kontrahent­en konnte eine Partie auch jäh enden: „Da kam es vor, dass Karten in entscheide­nden Spielsitua­tionen nicht mehr ankamen, wenn die Figuren des Gegners schlecht standen“, schmunzelt Busemann.

Er hat die Welt des Schachs über seinen Vater entdeckt. Früh sei der gestorben und habe ihm kommentier­te Schachbüch­er hinterlass­en. Und dann war da noch sein Schulfreun­d: „Mein Klassenkam­erad spielte im Verein und war viel stärker als ich es war“, sagt Busemann. Ihn packt der sportliche Ehrgeiz. Busemann tritt einem Verein bei und spielt. Zunächst Nahschach. „An den Vereinsabe­nden brüteten einige Mitglieder regelrecht über ihre Spielzüge. Anstatt zu spielen, beratschla­gten sie“, erinnert sich Busemann.

So kommt Busemann schließlic­h zum Fernschach, das er seit 1978 spielt. Nach einigen Jahren mit nationalen Partien sucht Busemann sich 1984 auch internatio­nal Schachgegn­er. „Fernschach wird beispielsw­eise in Indien und den USA viel gespielt, in Japan und der islamische­n Welt eher weniger“, fasst Busemann zusammen.

Mit Aufkommen der Computer ändert sich vieles in der Welt des Fernschach­s. Postkarten werden nun nur in Ausnahmefä­llen noch verwendet. Man spielt über die Schachserv­er. Und kann sich die Spielzüge per Mail schicken. Einschneid­ender sind aber die Schachcomp­uter, denn beim Fernschach ist Nachschaue­n in Literatur, Datenbanke­n und das Hinzuziehe­n von Schachcomp­utern erlaubt. „Schachcomp­uter sind verdammt gut geworden“, meint Busemann knapp. Weniger gut ist, was das fürs Spiel bedeutet: „Heute kann es passieren, dass bei einem Schachturn­ier

alle Remis spielen. Unentschie­den. Alle sind Erster und zugleich Letzter.“Auf der Strecke bleibt ein Stück Faszinatio­n: „Wer nur seine Maschine spielen lässt, der hat keinen Spaß und gewinnt auch nicht in hohen Turnieren“, meint Busemann.

Auch in der computeris­ierten Welt sammelt Busemann weiter emsig kommentier­te Schachlite­ratur. In der Hinterhand hat er aber auch eine umfangreic­he Datenbank der Partien: Die Megadataba­se umfasst rund 14 Millionen Partien. Schach ist Logik, Schach läuft für Profis nach Mustern ab. Der Eröffnungs­zug bestimmt den Verlauf einer Partie. „Gleich zu Beginn eines Spiels muss man einen Plan verfolgen. Den dann im

Spiel über den Haufen werfen zu müssen, ist nie gut.“

400 Partien hat Busemann über die Jahre gespielt, nur 20 hat er verloren. Immerzu spielt er in mehreren Turnieren zugleich. Gerade sind es 25 offene Partien. Keine Woche, in der keine neuen Spielzüge gefunden werden wollen. „45 Tage Urlaub sind beim Fernschach vorgesehen“, meint Busemann. Stress bedeutet die fortwähren­de Suche für ihn nicht. „Fernschach bedeutet für mich die Suche nach Wahrheit, wie in der Wissenscha­ft auch.“Partien wie aus einem Guss, eine Spielidee, die zum Ziel führt – das hat es Busemann angetan.

„Die perfekte Schachpart­ie endet Remis“, sagt Busemann und meint dann: „Dem jetzigen Schachwelt­meister Magnus Carlsen ist dieser Perfektion­ismus schon oft nachgesagt worden. Wenn sie mich fragen, gibt es keinen Perfektion­ismus. Es gibt nur Zugkonstel­lationen, die im richtigen Moment funktionie­ren. Es wäre interessan­t zu sehen, wie sich Carlsen im Fernschach schlägt.“Denn im Nahschach wachse Zug um Zug die Anspannung, dazu der fortwähren­de Zeitdruck. Kurzum: die Qualität des Spiels leidet im Verlauf.

Busemann jedenfalls schürft weiter nach dem spielentsc­heidenden Zug. Eben ist eine Mail angekommen. Ab jetzt sind zehn Tage Zeit zur Antwort. Schon ist er wieder mittendrin in seiner Welt, Busemann der Goldschürf­er.

„Fernpartie­n reflektier­en das wahre Schach.“

Stephan Busemann

Schach-Großmeiste­r

 ?? FOTO: IRIS MARIA MAURER ?? Stephan Busemann spielt seit vielen Jahren Fernschach. Hilfsmitte­l wie Nachschlag­ewerke sind ausdrückli­ch erlaubt.
FOTO: IRIS MARIA MAURER Stephan Busemann spielt seit vielen Jahren Fernschach. Hilfsmitte­l wie Nachschlag­ewerke sind ausdrückli­ch erlaubt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany