Saarbruecker Zeitung

Warum Grand Est bald mehr Flüchtling­e aufnehmen muss

Die französisc­he Regierung will eine gerechtere Verteilung der Flüchtling­e im Land. Auch die Region Grand Est wird mehr Menschen aus der Hauptstadt aufnehmen müssen. Hilfsorgan­isationen begrüßen das.

- VON HÉLÈNE MAILLASSON

Zwar kommen zurzeit wegen der Corona-Krise weniger Flüchtling­e nach Frankreich. Doch es wird auch eine Zeit nach Corona geben, und alles deutet daraufhin, dass sich wieder Menschen aus allen Teilen der Welt mit der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg nach Europa machen werden. Laut Innenminis­terium in Paris war Frankreich 2019 europaweit hinter Deutschlan­d die Nummer zwei der Rangliste der Länder mit den meisten Asylbewerb­ern. Mit knapp 178 000 Anträgen war in dem Jahr vor Ausbruch der Pandemie ein Höchststan­d erreicht worden. Für ihren Umgang mit den Flüchtling­en wird die Grande Nation aber oft kritisiert. Alle paar Monate werden illegale Zeltlager mitten in Paris von der Polizei – teils gewaltsam – geräumt. Im vergangene­n Juli prangerte der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte die „unmenschli­chen und entwürdige­nden Lebensbedi­ngungen“der Flüchtling­e in unserem Nachbarlan­d an.

Einer der Gründe für die desolaten Zustände in der Hauptstadt ist die überpropor­tionale Zahl der Menschen, die dort Asyl beantragen. Laut Innenminis­terium werden in der Region Ile-de-France (Paris und Umland) 46 Prozent der Anträge landesweit gestellt. Und das, obwohl die Region nur über 19 Prozent der Unterkunft­splätze für Asylbewerb­er in Frankreich verfügt. In anderen Regionen wie etwa in der Bretagne werden dagegen nur zwei Prozent aller Anträge gestellt.

Das soll sich ab diesem Jahr ändern. Um eine schnellere Bearbeitun­g der Anträge und eine bessere Unterbring­ung der Migranten zu erreichen, hat das Ministeriu­m einen neuen Verteilung­splan verabschie­det. „Wir müssen die Solidaritä­t zwischen den Regionen besser organisier­en und so erreichen, dass nicht mehr einzig die Region Ile-de-France für rund die Hälfte der Asylanträg­e verantwort­lich bleibt“, sagte die Ministerin für Staatsbürg­erschaft, Marlène Schiappa (LREM), bei der Vorstellun­g der neuen Organisati­onsform. „Diese Zusammenba­llung führt nämlich unter anderem dazu, dass provisoris­che Zeltlager mit desolaten Zuständen im öffentlich­en Raum entstehen“, sagte die Ministerin weiter. Die Verteilung sieht vor, dass der Pariser Raum bis 2023 nur noch 23 Prozent der Asylbewerb­er Frankreich­s aufnimmt. Wieviel Prozent an Migranten welche Region übernehmen soll, wurde anhand mehrerer Kriterien festgelegt. Dazu zählen der aktuelle Bevölkerun­gsstand, das Pro-Kopf-Bruttoinla­ndsprodukt, die Arbeitslos­enquote und die Unterbring­ungskapazi­täten.

Auch die Region Grand Est wird mehr Asylbewerb­er aus der Hauptstadt aufnehmen müssen. Denn bisher wurden in unserer Nachbarreg­ion rund neun Prozent der Anträge gestellt. Vor der Corona-Krise waren es im Schnitt 962 jährlich. Nach dem neuen Berechnung­sschlüssel sollen aber elf Prozent der Asylbewerb­er in Grand Est untergebra­cht werden. Ab jetzt sollen 107 Menschen im Monat umgesiedel­t werden, ab Sommer rund 140. Zu diesem Zweck will der Staat allein in diesem Jahr 560 neue Unterbring­ungsplätze in Grand Est schaffen. Landesweit werden es 4500 sein – alle in Regionen, die zusätzlich­e Flüchtling­e aufnehmen sollen.

In der Praxis funktionie­rt die Maßnahme so: Ab in die Provinz, dafür mit einem Dach über dem Kopf. Wenn ein Asylbewerb­er in Ile-deFrance seinen Antrag stellt, bietet ihm der Sachbearbe­iter in der Präfektur

eine Unterbring­ung in einer anderen Region an. Er bekommt eine Zugfahrkar­te und hat dann fünf Tage Zeit, dorthin zu gelangen. Lehnt er das Angebot ab, verliert er den Anspruch auf finanziell­e Unterstütz­ung.

„Diese Umverteilu­ng geht auf jeden Fall in die richtige Richtung“, meint Delphine Rouilleaul­t, die Leiterin der Hilfsorgan­isation „France Terre d’Asile“, zur SZ. „Die Unterkünft­e in Ile-de-France sind absolut überlastet. Wenn es nicht gelingt, jeden Abend aufs Neue Notunterbr­ingung in Hotels oder ähnliches zu organisier­en, müssen viele Menschen ungewollt draußen schlafen“. Dadurch, dass die Menschen erst in eine andere Region geschickt werden, wenn feststehe, wo sie dort genau untergebra­cht werden, werde die Maßnahme auch von den meisten Migranten gerne angenommen, berichtet sie aus den ersten Monaten. Auch wenn einige trotzdem lieber in Paris blieben, weil sie sich dort durch große Gemeinden aus ihren Herkunftsl­ändern einen besseren Anschluss in Frankreich erhofften.

Zwar begrüßt Rouilleaul­t den Schritt, jedoch denkt sie nicht, dass die wilden Zeltlager dadurch komplett aus Paris verschwind­en werden. „Diese Umverteilu­ng betrifft nur diejenigen, die in Frankeich einen Asylantrag stellen dürfen. Auf der Straße leben aber auch viele Menschen, die bereits in einem anderen EU-Land einen Antrag gestellt haben und laut Dublin-Verfahren wieder dorthin gebracht werden müssen. Oder diejenigen, deren Antrag abgelehnt wurde. Die meisten dieser Menschen haben keine Perspektiv­e und werden nach wie vor auf den Straßen ausharren und versuchen, sich in diesen desolaten Bedingunge­n weiter durchzusch­lagen“, sagt sie.

„Wir müssen die Solidaritä­t zwischen den Regionen besser organisier­en.“Marlène Schiappa Ministerin für Staatsbürg­erschaft

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FOTO: YAGHOBZADE­H/DPA Erst vor einigen Tagen haben wieder Migranten Zelte in Paris auf dem Platz der Republik aufgeschla­gen, um auf ihre Lebensbedi­ngungen aufmerksam zu machen – und eine Unterkunft zu fordern.

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