Mediziner kritisieren Saarland-Modell
Das Saarland-Modell provoziert in den saarländischen Kliniken Ärger. Für Michael Quetting ist es gar „gefährlich“. Anstatt die CoronaVerordnung zu lockern, fordert der Gewerkschafter einen harten Lockdown.
Das Saarland-Modell löst in saarländischen Kliniken Ärger aus. Für den Gewerkschafter Michael Quetting ist es gar „gefährlich“. Anstatt die Corona-Verordnung zu lockern, fordert er einen harten Lockdown.
Als Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) und seine Stellvertreterin Anke Rehlinger (SPD) am vergangenen Donnerstag das sogenannte Saarland-Modell vorgestellt hatten, stellten sich bei dem ein oder anderen Angestellten im Gesundheitswesen die Nackenhaare auf. Zumindest stieg der Puls bei so manchem Mediziner im Saarland. Nicht nur weil das so schick genannte „Saarland-Modell“lediglich der vierte Schritt des bereits Anfang März von der Ministerpräsidentenkonferenz vorgelegten Öffnungsplans ist, sondern wegen seines Inhaltes: Kneipen können zum Beispiel ab dem 6. April wieder draußen bestuhlen und Gäste bedienen; auch Kulturveranstaltungen seien möglich – wenn Alle bestimmte Test-, Hygiene- und Abstandsregeln einhalten (wir berichteten). Und: Wenn die Corona-Infektionen nicht exponentiell steigen sollten, die Sieben-Tages-Inzidenz nicht stabil über 100 liegt. Im Saarland liegt sie zurzeit bei 89,9 (Stand: 31. März, 19 Uhr). Am Donnerstag vergangener Woche – als Hans und Rehlinger die Lockerungsperspektiven ausmalten – stand der Wert der Ansteckungen unter 100 000 Menschen in einer Woche auf 70,8.
„Mein Blick ist natürlich jetzt sicherlich sehr geprägt von den Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind“, gibt Michael Quetting, Pflegebeauftragter der Gewerkschaft Verdi im Südwesten zu bedenken. Aber er findet das Saarland-Modell als „sehr gefährlich“. Der Gewerkschafter ist gar der Meinung, dass „wir einen sehr strengen Lockdown haben sollten. Drei Wochen, um die Ansteckungsrate auf null zu drücken.“Auch die Wirtschaft solle „brutaler runterfahren“, mehr Home-Office fordert er, Produktionen zur Not auch mal stillzulegen. Natürlich müsse das alles gegenfinanziert werden. Er könne auch gut verstehen, dass die Menschen Lockerungen wollen, da will „ich auch da keine Schelte betreiben, aber ich sehe das Personal auf den Intensivstationen und in den Krankenhäusern. Und ich sage: Die sind kaputt, die können nicht mehr.“Auch psychisch sei es schwer zu verkraften, wenn Menschen sterben, „das ist alles nicht so ganz ohne“.
Dann käme der Eindruck hinzu, „die Gesellschaft kümmere sich nicht“. Das Personal stelle sich die Frage: „Warum werden wir nicht gehört? Die Verzweiflung ist dort recht groß“, sagt Quetting. Und warnt zusätzlich: „Die Kapazitätsgrenzen auf den Stationen sind sehr schnell erreicht.“Am 31. März waren laut Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) 53 Patienten auf einer Covid-Intensivstation im Saarland in Behandlung. 382 Betten seien insgesamt auf den Stationen belegt, 61 noch frei. Als Notreserve geben die saarländischen Kliniken dem Register 253 Betten an.
Für Quetting stehen die nur auf dem Papier. Es gebe gar kein Personal dafür. Das sei knapp, sei ausgelaugt, kündige. „Im Prinzip haben wir überhaupt kein Bett frei – wenn sie ordentlich besetzt würden. Wir sind schon längst über diese Grenze hinaus. Es ist nicht so, dass da irgendwann eine Krise kommt, wir sind mitten in der Krise. Wir müssen in den Krankenhäusern nur noch keine Triage machen“, sagt der Gewerkschafter. Jetzt kämen die Feiertage und „sie werden das Problem sicherlich verschärfen. Trotz aller Bemühungen. „Weil die Leute es leid sind.“
Dazu käme das Hin und Her um den Impfstoff von Astrazeneca. Auch das Personal in den Kliniken sei daher „verunsichert. Das ist ein großes Problem“, erklärt Quetting. Bisher sei die Impfquote bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Krankenhäusern hoch gewesen, viele seien bereits durchgeimpft, doch eben noch nicht alle. Der Gewerkschafter sieht es zwar positiv, dass das Saarland-Modell eine Perspektive aufzeigen will. Aber die britische Mutation des Virus, die sich schneller ausbreitet, sei zu „riskant“. Und: „Wenn wir es in den Krankenhäusern nicht mehr packen, ist es zu spät“, warnt er.
Besorgt ist auch Thomas Jakobs, Geschäftsführer der saarländischen Krankenhausgesellschaft. „Noch liegen die Inzidenzen im Saarland unter 100“, sagt er. „Aber wir sind sehr besorgt, was die dritte Welle betrifft.“Auch er findet es nachvollziehbar, dass die Menschen pandemiemüde seien. „Eine Perspektive geben zu wollen, ist politisch nachvollziehbar“, sagt Jakobs. Das dürfe aber nicht dazu führen, „dass die Krankenhäuser an den Rand des Kollaps kommen.“Aktuell steige die Belegung der Betten in den Intensivstationen an. „Wir haben mehr Covid-Patienten. Wir haben aber auch sehr viele Non-Convid-Patienten“. Oft welche, deren Behandlung die Kliniken oder die Patienten selbst wegen der Pandemie immer wieder aufgeschoben hatten. „Die müssen nun ran“sagt Jakobs. Daher sagt auch er: „Die Auslastungsgrenze kommt näher.“Und: Das Personal stünde seit einem Jahr unter einer „Höchstbelastung“.
Aus Sicht der Krankenhausgesellschaft sei es sehr wichtig, dass die Inzidenzgrenze 100 „wirklich gesetzt“, ist, „das ist die letzte Haltelinie“. Nur bei niedrigeren Inzidenzen halte er es „für verantwortlich, Lockerungen umzusetzen“. Ob auch gleich alle umgesetzt werden müssten, oder vielleicht „nur einige“, stellt er zur Debatte.
„Wir rennen sehenden Auges ins Verderben“, sagt hingegen der Präsident der Divi, Professor Gernot Marx, in einer Pressemitteilung. „Nur weil die Bevölkerung des Lockdowns müde ist, können wir nicht bei Inzidenzen von 125, einem R-Wert von 1,2 und exponentiell steigenden Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen darüber nachdenken, wie sich weitere Lockerungen durchsetzen lassen. Wir müssen von den hohen Zahlen runter. Jetzt. Augenblicklich. Zwei oder drei Wochen harter Lockdown – das lässt sich ab Montag über die Osterferien gut realisieren. Das wird zahlreiche Leben retten und noch viel mehr Menschen
vor lebenslangen Langzeitfolgen durch Covid bewahren. Portugal hat es vorgemacht. Erst harter Stopp. Und dann öffnen. Das hat super geklappt.“
Auch die Ärzteschaft kritisiert „Versuche in Modellregionen“. Sie könnten „in dieser Situation keine Alternative zum Lockdown sein“, sagte die Vorsitzende des Ärzteverbands Marburger Bund, Susanne Johna. „Die dritte Welle ist bereits im vollen Gange.“Auch wenn die Inzidenz im Saarland noch relativ niedrig sei, bleibe völlig unklar, wie verhindert werden soll, dass viele Menschen aus anderen Bundesländern wegen der Öffnungen einreisen“, so Johna. Rain Aptidou, Geschäftsführerin des saarländischen Landesverbandes des Marburger Bundes, berichtet, dass die geplanten Lockerungen in der Ärzteschaft unterschiedlich diskutiert werden. „Intensivmediziner geben sicher eindeutigere Statements ab“, sagt sie.
Inzwischen hat Tobias Hans (CDU) bei Twitter geschrieben, dass er nicht zwingend am Starttermin festhalten wolle: „Selbst wenn wir wegen exponentiellem Wachstum einer 3. Welle nicht zum 6.4. starten könnten – das Saarland-Modell wird kommen. Mehr Tests, mehr Impfen, mehr App, mehr Freiheit, mehr Umsicht“. Und: „Die Menschen wollen Perspektive; sind bereit, dafür was zu tun und weiter zurückhaltend zu sein.“Geduldig müssen sie wohl noch sein.
Auch der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr hält von einem Start ab dem 6. April nichts. „Ich halte das momentan für das falsche Signal, in Zeiten des Wachstums, auf massive Öffnungen zu setzen“, sagte der Experte für Corona-Prognosen der Deutschen Presse-Agentur. Auch wenn die Zahlen im Saarland im bundesweiten Vergleich niedriger seien: „Wir sehen auch hier einen kontinuierlichen Anstieg.“Nach seinen Berechnungen erwartet er, „dass wir im Saarland Anfang April, rund um den geplanten Starttermin, die Inzidenz von 100 erreichen könnten“. Er halte „Lockerungen und Pilotprojekte, wenn sie auf einer solch hohen Flughöhe starten, für sehr schwierig“. Vor dem Start des Modellprojekts im Saarland müsse man das Infektionsgeschehen „erst einmal wieder besser in den Griff bekommen“. Das sehen sie auf den Intensivstationen genauso.
„Wenn wir es in den Kliniken nicht mehr
packen, ist es zu spät.“ Michael Quetting Pflegebeauftragter der Gewerkschaft Verdi im
Südwesten