Wechsel der Perspektive
Ostern ist das Fest der Auferstehung, das sagt sich leicht, wenn man nach der Bedeutung des Osterfestes gefragt wird. Aber mal Hand aufs Herz: Sagt Ihnen diese Erklärung noch etwas? Können Sie sie mit Leben füllen und eine Geschichte erzählen? Ich finde, wenn man etwas verständlich machen will, muss man Geschichten erzählen. Und man muss Geschichten gut zuhören können, wenn man etwas verstehen will.
Das ist nicht nur in der alltäglichen Begegnung mit Menschen wichtig, sondern auch für unseren Glauben. Wenn man etwas vom christlichen Glauben verstehen will, muss man sich in die biblischen Geschichten hineinversetzen, sie gerne erzählen und gerne hören. Immer wieder neu und aus einer anderen Perspektive. Nicht vorschnell sagen, ach, die kenne ich schon.
Im Krankenhaus höre ich täglich Geschichten. Ich erlebe hautnah mit, was Menschen bewegt und beschäftigt, was sie erleichtert und froh, aber auch ratlos und hilflos macht. Ich sehe Menschen gesunden und ich sehe andere sterben. Ich erlebe die Verzweiflung Angehöriger hautnah mit und ich werde immer sparsamer mit leicht dahin gesagten Sätzen. So geht es mir auch mit Ostern. Ich kann Ostern
nicht verstehen, wenn ich nichts vom Karfreitag weiß. Ich kann den Schrecken und die Überraschung, das Staunen und das Unverständnis nicht nachvollziehen, wenn ich nichts davon weiß, was die Menschen zuvor erlebt haben. Als Gemeindepfarrerin habe ich oft nachgedacht und erzählt, warum und wozu Jesus am Kreuz gestorben ist. Gerade verändert sich meine Perspektive.
Ich bin nahe bei den Frauen, die dicht beim Kreuz stehen. Sie überwinden tapfer ihre Angst. Sie bleiben in der Nähe. Sie müssen hilflos und ohnmächtig zusehen, wie ihr geliebter Freund stirbt. Er stirbt unter Schmerzen einen qualvollen Erstickungstod, der ihm jegliche Menschenwürde raubt. Das ist die
Geschichte von Karfreitag, aber sie geht weiter. Eben diese Frauen gehen im Morgengrauen des dritten Tages mit Salben und Ölen zur Grabhöhle. Sie wollen ihrem toten Freund liebevoll die letzte Ehre erweisen, ihm posthum ein wenig seiner Würde zurückgeben. Und dann stehen sie vor einem leeren Grab! Kein Wunder, dass Angst und Schrecken sie schütteln! Kein Wunder, dass die Verzweiflung nach ihnen greift! Kein Wunder, dass sich durch die Trauer erst langsam die Erkenntnis durchsetzt: Er ist nicht tot. Er lebt! „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier. Er ist auferstanden“, so fragt und so deutet der Engel das Unfassbare für sie.
In diesem Moment geschieht ein Wunder. Ihr Glaube wird neu geboren und die Hoffnung steht auf. Mit dem Tod ist nicht alles aus.
Aus dem Tod wächst neues Leben, neuer Mut und ein neuer Auftrag. Das erleben die Frauen und sie tragen diese Hoffnung weiter. Sie trägt auch mich, diese Hoffnung, am Krankenbett und am Sterbebett. Gott ist da. Die Liebe siegt und das Leben. Das ist Ostern.