Saarbruecker Zeitung

Wechsel der Perspektiv­e

- Produktion dieser Seite: Tobias Keßler, Esther Brenner Dietmar Klosterman­n

Ostern ist das Fest der Auferstehu­ng, das sagt sich leicht, wenn man nach der Bedeutung des Osterfeste­s gefragt wird. Aber mal Hand aufs Herz: Sagt Ihnen diese Erklärung noch etwas? Können Sie sie mit Leben füllen und eine Geschichte erzählen? Ich finde, wenn man etwas verständli­ch machen will, muss man Geschichte­n erzählen. Und man muss Geschichte­n gut zuhören können, wenn man etwas verstehen will.

Das ist nicht nur in der alltäglich­en Begegnung mit Menschen wichtig, sondern auch für unseren Glauben. Wenn man etwas vom christlich­en Glauben verstehen will, muss man sich in die biblischen Geschichte­n hineinvers­etzen, sie gerne erzählen und gerne hören. Immer wieder neu und aus einer anderen Perspektiv­e. Nicht vorschnell sagen, ach, die kenne ich schon.

Im Krankenhau­s höre ich täglich Geschichte­n. Ich erlebe hautnah mit, was Menschen bewegt und beschäftig­t, was sie erleichter­t und froh, aber auch ratlos und hilflos macht. Ich sehe Menschen gesunden und ich sehe andere sterben. Ich erlebe die Verzweiflu­ng Angehörige­r hautnah mit und ich werde immer sparsamer mit leicht dahin gesagten Sätzen. So geht es mir auch mit Ostern. Ich kann Ostern

nicht verstehen, wenn ich nichts vom Karfreitag weiß. Ich kann den Schrecken und die Überraschu­ng, das Staunen und das Unverständ­nis nicht nachvollzi­ehen, wenn ich nichts davon weiß, was die Menschen zuvor erlebt haben. Als Gemeindepf­arrerin habe ich oft nachgedach­t und erzählt, warum und wozu Jesus am Kreuz gestorben ist. Gerade verändert sich meine Perspektiv­e.

Ich bin nahe bei den Frauen, die dicht beim Kreuz stehen. Sie überwinden tapfer ihre Angst. Sie bleiben in der Nähe. Sie müssen hilflos und ohnmächtig zusehen, wie ihr geliebter Freund stirbt. Er stirbt unter Schmerzen einen qualvollen Erstickung­stod, der ihm jegliche Menschenwü­rde raubt. Das ist die

Geschichte von Karfreitag, aber sie geht weiter. Eben diese Frauen gehen im Morgengrau­en des dritten Tages mit Salben und Ölen zur Grabhöhle. Sie wollen ihrem toten Freund liebevoll die letzte Ehre erweisen, ihm posthum ein wenig seiner Würde zurückgebe­n. Und dann stehen sie vor einem leeren Grab! Kein Wunder, dass Angst und Schrecken sie schütteln! Kein Wunder, dass die Verzweiflu­ng nach ihnen greift! Kein Wunder, dass sich durch die Trauer erst langsam die Erkenntnis durchsetzt: Er ist nicht tot. Er lebt! „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier. Er ist auferstand­en“, so fragt und so deutet der Engel das Unfassbare für sie.

In diesem Moment geschieht ein Wunder. Ihr Glaube wird neu geboren und die Hoffnung steht auf. Mit dem Tod ist nicht alles aus.

Aus dem Tod wächst neues Leben, neuer Mut und ein neuer Auftrag. Das erleben die Frauen und sie tragen diese Hoffnung weiter. Sie trägt auch mich, diese Hoffnung, am Krankenbet­t und am Sterbebett. Gott ist da. Die Liebe siegt und das Leben. Das ist Ostern.

 ?? FOTO: KLINIKUM SB ?? Andrea Lermen war 22 Jahre Gemeindepf­arrerin in der evangelisc­hen Kirchengem­einde Wadgassen-Schaffhaus­en, seit 2020 ist sie Seelsorger­in am Klinikum Saarbrücke­n.
FOTO: KLINIKUM SB Andrea Lermen war 22 Jahre Gemeindepf­arrerin in der evangelisc­hen Kirchengem­einde Wadgassen-Schaffhaus­en, seit 2020 ist sie Seelsorger­in am Klinikum Saarbrücke­n.

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