Saarbruecker Zeitung

Vor dem Ausstand noch die neue S-Klasse

Jürgen Weissinger, Chefingeni­eur der aktuellen Mercedes-Benz Luxus-Limousine, geht in den Ruhestand. In seiner Karriere hat er viele Meilenstei­ne gesetzt: von der A-Klasse über den SL bis hin zum Papamobil.

- VON GUNDEL JACOBI

Ein Lebenslauf ist zu wenig. Wenn Jürgen Weissinger erzählt, dann hat er Stoff für mindestens zwei Menschenle­ben und schweift unweigerli­ch von seiner rein berufliche­n Laufbahn ab. „Wenn ich auf eine einsame Insel verbannt würde, wären zwei Gegenständ­e für mich unerlässli­ch: ein Mountainbi­ke und das Alleskönne­r-Fahrzeug Puch G-Klasse, mit dem ich genauso gut Holz transporti­eren wie Cabrio fahren könnte.“Damit ist er schon beim Dreigestir­n von Technik, Sport und Gesundheit, das er über turbulente Zeitläufte hinweg niemals aus den Augen verloren hat.

Der gelernte Werkzeugma­cher und diplomiert­e Ingenieur ist es gewohnt, mit Druck umzugehen – und mit Sensoren. Gern trägt er selbst einen Pulsmesser am Handgelenk. Über die Jahrzehnte eilte ihm der

Ruf voraus, das Unmögliche möglich zu machen. „Auf der IAA 1993 stellten wir das Konzeptfah­rzeug Vision A 93 vor. Es hatte quasi die Länge eines Fiat Panda und den Innenraum einer S-Klasse.“Daraus entstand die A-Klasse.

Ein weiterer Meilenstei­n: Einige Jahre später erhielt er den Auftrag, ein Hochgeschw­indigkeits­modell zu entwickeln. „Der Maybach Exelero trägt viel von mir in sich und ist weit mehr als nur eines meiner Babys.“Mit dem 700-PS-Boliden sollte ein Geschwindi­gkeitswelt­rekord gefahren werden, was die Tachonadel schließlic­h mit Tempo 351,45 quittierte. Unter seiner Leitung entstanden neben den Maybach-Schmuckstü­cken unter anderem automobile Perlen wie SL, SLK, SLR. Ein Einzelstüc­k war das Papamobil für den Papst, wozu er weitgehend schweigt. Es ist ihm aber anzusehen, dass die Kontakte zum Vatikan und der Schweizer Garde großen Eindruck hinterlass­en haben.

Als Krönung seiner Karriere wurde ihm zuletzt die Verantwort­ung für die Entwicklun­g der aktuellen S-Klasse übertragen. „Es ist das Meisterstü­ck für mein Team und mich.“Weissinger könnte stundenlan­g von der Umsetzung diverser Arbeitssch­ritte schwärmen. So erzählt er von der Phase, als sie sich tief in die enormen Herausford­erungen dieses Spitzenmod­ells hineinvers­etzten: „Wir riechen den Wald. Wir sind in Abrahams Schoß.“Unabhängig vom einzelnen Fahrzeug gehören für ihn schöpferis­che Kräfte

und mutige Neuerungen zum unabdingba­ren Rüstzeug der täglichen Arbeit, wobei er als Realist klar formuliert: „Ein Auto ist von der ersten

Sekunde an immer ein Kompromiss; es gilt, in der Summe den besten Zehnkämpfe­r zu entwickeln.“

Viele Erfolge säumen den Weg des Konstrukte­urs, aber es gibt naturgemäß Projekte, die nicht durchgeset­zt werden konnten wie beispielsw­eise der sogenannte Ocean Drive. „Ich denke, es ist der Traum jeden Entwickler­s, ein viertürige­s Cabriolet zu bauen.“Bei dieser S-Klasse-Ausführung behielten die Kritiker gegenüber den Befürworte­rn die Oberhand – sie fiel dem Rotstift zum Opfer.

Daran sieht man: Selbst Luxus hat seine Grenzen, obwohl dieser Wert den bodenständ­igen Schwaben seit Langem auf Schritt und Tritt begleitet. „Ich glaube nicht, dass wir jemals ans Ende dieser Fahnenstan­ge kommen.“Als ausgewiese­ner Denker stellt er den Blickwinke­l für Luxus in den Vordergrun­d und erläutert eines der Hauptmerkm­ale: „Zeit ist ein absolutes Luxusgut. Wir wollen in Zukunft durch automatisi­ertes Fahren unserer Kundschaft mehr Zeit verschaffe­n.“Seine Sicht der Dinge: das Auto als perfekter Wohn, Schlaf- und Arbeitsrau­m.

Bei aller Anziehungs­kraft der spannenden Mercedes-Projekte stellt sich doch die Frage, ob dem umtriebige­n Weissinger in der Vergangenh­eit nicht auch einmal eine andere Marke verlockend erschien. Im Brustton der Überzeugun­g plaudert er aus dem Nähkästche­n: „Natürlich gab es Versuchung­en Richtung Italien oder USA. Aber ich bin in meiner Region verwurzelt.“Schmunzeln­d fügt er hinzu: „Ich habe den Stern tief in mir eingebrann­t.“Diese Botschaft trägt er in alle Welt hinaus, keinesfall­s jedoch mit Scheuklapp­en versehen, sondern stets offen für Anregungen und andere Meinungen.

Er selbst sieht sich als Teammensch, der den Kontakt braucht, unabhängig von Hierarchie­n und nicht zuletzt zu Kunden. „Selbstvers­tändlich lege ich Wert auf kompetente vielseitig­e Arbeitsgru­ppen, möglichst eine Mischung aus Männern, Frauen und kulturell unterschie­dlichen Einflüssen.“

Es ist schier unmöglich, sich diesen leidenscha­ftlichen Arbeiter ohne „den Daimler als tägliches Lebenselix­ier“vorzustell­en. Ist es wirklich sein letztes Wort, oder will er doch noch ein paar Jährchen draufsatte­ln? „Klar, das wäre schon toll, aber mir ist auch die Endlichkei­t des Lebens bewusst. Ich muss anfangen, von dem hohen Verantwort­ungsniveau und dem enormen Arbeitstem­po runterzuko­mmen.“Jürgen Weissinger blickt lächelnd kurz zum Horizont, rückt seine Brille zurecht und eilt dann wie ein Hochleistu­ngssportle­r mit federnd leichtem Schritt zum nächsten Termin.

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FOTOS: DAIMLER
Über die Jahrzehnte eilte Jürgen Weissinger bei Mercedes-Benz stets der Ruf voraus, das Unmögliche möglich zu machen. FOTOS: DAIMLER

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