100 Tage nach dem Brexit bleibt es schwierig
Nach dem endgültigen Ende des Dramas um den Austritt war zwischen EU und Briten eigentlich von Ruhe die Rede. Doch es wirkt anders.
(dpa) Der Abgesang war feierlich. Man schwor sich, Freunde zu bleiben. Aber knapp 100 Tage nach Abschluss des Brexit gibt es gute Gründe anzunehmen, dass zwischen der EU und Großbritannien eine dauerhafte und bisweilen bittere Rivalität wächst. Die Wochen seit dem endgültigen Bruch zu Jahresbeginn waren jedenfalls alles andere als harmonisch.
Die britische Regierung nutzt jede Gelegenheit, den Brexit und die Abgrenzung vom verpönten Club der 27 zu feiern. Das geht bis zu kleinlichen Sticheleien wie der Weigerung, dem EU-Botschafter in London die volle Anerkennung als Diplomat zu gewähren. Die EU wirkt in der Corona-Pandemie ihrerseits angeschlagen und will im Streit mit Großbritannien Härte zeigen. Über allem liegt eine Atmosphäre des Misstrauens und gegenseitiger Vorwürfe. Und es gibt einige Probleme.
Absturz im Handel: Erst sieben Tage vor dem endgültigen Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion gelang Unterhändlern beider Seiten an Heiligabend 2020 der Brexit-Handelsdeal. Die Erleichterung war groß, das befürchtete No-Deal-Chaos abgewendet. Trotzdem war der Neustart der wirtschaftlichen Beziehungen am 1. Januar 2021 für viele eine kalte Dusche. Zollformulare, Kontrollen, Herkunftsnachweise, Auflagen für den Import von Lebensmitteln
und frischem Fisch, Genehmigungen, Einfuhrumsatzsteuer – ein Papierkrieg, der viele Händler und Verbraucher unvorbereitet traf. Kein Wunder, schließlich behauptete Johnson stets, das Abkommen habe jegliche Handelshindernisse beseitigt. Doch schon für Januar meldete das britische Statistikamt einen Absturz der Exporte in die EU um 40,7 Prozent; die Importe aus der EU brachen um 28,8 Prozent ein. Noch in zehn Jahren sollen die britischen Exporte Prognosen zufolge um rund 36 Prozent niedriger liegen als bei einer weiteren britischen EU-Mitgliedschaft.
Der britische Impftriumph: Die wirtschaftlichen Nachteile des Brexit scheinen die Briten indes kaum zu stören und Johnson kaum zu schaden. Dem Premier gelang unmittelbar nach dem vollendeten Brexit der ultimative Triumph: Beim Impfen gegen Covid-19 hängte Großbritannien die EU meilenweit ab. Beinahe vergessen scheint darüber, dass die Regierung in London bis dahin eine klägliche Figur in der Pandemie abgegeben hatte. Doch mehr als 31 Millionen Erstimpfungen und niedrige Fallzahlen lassen Licht am Ende des Tunnels erkennen. Punkt für Johnson gegen die EU.
Der Impfstreit: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wies nicht zu Unrecht darauf hin, dass das britische Impfwunder undenkbar gewesen wäre ohne Impfstoffe aus der EU. Seit 1. Dezember seien mehr als 21 Millionen Dosen auf die Insel gegangen, umgekehrt sei aber fast nichts von dort gekommen, betonte die EU-Kommission Ende März und nahm dies zur Begründung für verschärfte Exportkontrollen. Vor allem der britisch-schwedische Hersteller Astrazeneca ist im Visier. Inzwischen verhandeln EU und Briten über eine längerfristige Zusammenarbeit beim Impfen. Ausgang offen.
Nordirland: Im Zuge der Impfstoff-Exportauflagen erwog die EU-Kommission im Januar kurz, den Export von Impfstoffen aus dem EU-Staat Irland ins britische Nordirland zu überwachen. Sie nahm das zügig zurück, aber der Schaden war angerichtet. Die Grenze zwischen den beiden Teilen Irlands ist ein sehr heikles Thema. Jahrelang hatte sich Brüssel bei den Austrittsgesprächen dafür eingesetzt, dass alles beim Alten bleibt, um den Frieden in der ehemaligen Bürgerkriegsregion zu wahren – nun schien die Kommission diese Grundsätze bei der ersten Gelegenheit über Bord zu werfen.
Die britische Regierung nahm das zum Vorwand, das sogenannte Nordirland-Protokoll im EU-Austrittsvertrag, das die Provinz de facto dem Handelsraum der EU zuschlägt, auseinanderzupflücken und teilweise auszusetzen. Brüssel reichte Klage ein. Die Spannungen in Nordirland sind derweil deutlich erhöht, seit Tagen liefern sich britische Loyalisten nächtliche Straßenschlachten mit der Polizei.
Wie weiter? Beide Seiten haben es nach 47 gemeinsamen Jahren schon binnen weniger Wochen geschafft, sich gegenseitig Vertragsbruch, Nationalismus und Feindseligkeit vorzuwerfen, und das, obwohl sie weiter aufeinander angewiesen sind. Der Handelspakt ist auf EU-Seite noch nicht ratifiziert und das Europaparlament knüpft seine Zustimmung nun an eine Schlichtung des Nordirland-Streits. Wie ernst die Drohung ist, bleibt offen, aber für gute Stimmung spricht sie nicht. Unklar ist auch weiter der EU-Zugang für britische Finanzdienstleistungen. Beim Impfstoff ist die EU ihrerseits von Rohstoffen von der Insel abhängig. Es wird wohl schwierig bleiben.