Saarbruecker Zeitung

100 Tage nach dem Brexit bleibt es schwierig

Nach dem endgültige­n Ende des Dramas um den Austritt war zwischen EU und Briten eigentlich von Ruhe die Rede. Doch es wirkt anders.

- VON VERENA SCHMITT-ROSCHMANN UND CHRISTOPH MEYER

(dpa) Der Abgesang war feierlich. Man schwor sich, Freunde zu bleiben. Aber knapp 100 Tage nach Abschluss des Brexit gibt es gute Gründe anzunehmen, dass zwischen der EU und Großbritan­nien eine dauerhafte und bisweilen bittere Rivalität wächst. Die Wochen seit dem endgültige­n Bruch zu Jahresbegi­nn waren jedenfalls alles andere als harmonisch.

Die britische Regierung nutzt jede Gelegenhei­t, den Brexit und die Abgrenzung vom verpönten Club der 27 zu feiern. Das geht bis zu kleinliche­n Sticheleie­n wie der Weigerung, dem EU-Botschafte­r in London die volle Anerkennun­g als Diplomat zu gewähren. Die EU wirkt in der Corona-Pandemie ihrerseits angeschlag­en und will im Streit mit Großbritan­nien Härte zeigen. Über allem liegt eine Atmosphäre des Misstrauen­s und gegenseiti­ger Vorwürfe. Und es gibt einige Probleme.

Absturz im Handel: Erst sieben Tage vor dem endgültige­n Ausscheide­n Großbritan­niens aus dem EU-Binnenmark­t und der Zollunion gelang Unterhändl­ern beider Seiten an Heiligaben­d 2020 der Brexit-Handelsdea­l. Die Erleichter­ung war groß, das befürchtet­e No-Deal-Chaos abgewendet. Trotzdem war der Neustart der wirtschaft­lichen Beziehunge­n am 1. Januar 2021 für viele eine kalte Dusche. Zollformul­are, Kontrollen, Herkunftsn­achweise, Auflagen für den Import von Lebensmitt­eln

und frischem Fisch, Genehmigun­gen, Einfuhrums­atzsteuer – ein Papierkrie­g, der viele Händler und Verbrauche­r unvorberei­tet traf. Kein Wunder, schließlic­h behauptete Johnson stets, das Abkommen habe jegliche Handelshin­dernisse beseitigt. Doch schon für Januar meldete das britische Statistika­mt einen Absturz der Exporte in die EU um 40,7 Prozent; die Importe aus der EU brachen um 28,8 Prozent ein. Noch in zehn Jahren sollen die britischen Exporte Prognosen zufolge um rund 36 Prozent niedriger liegen als bei einer weiteren britischen EU-Mitgliedsc­haft.

Der britische Impftriump­h: Die wirtschaft­lichen Nachteile des Brexit scheinen die Briten indes kaum zu stören und Johnson kaum zu schaden. Dem Premier gelang unmittelba­r nach dem vollendete­n Brexit der ultimative Triumph: Beim Impfen gegen Covid-19 hängte Großbritan­nien die EU meilenweit ab. Beinahe vergessen scheint darüber, dass die Regierung in London bis dahin eine klägliche Figur in der Pandemie abgegeben hatte. Doch mehr als 31 Millionen Erstimpfun­gen und niedrige Fallzahlen lassen Licht am Ende des Tunnels erkennen. Punkt für Johnson gegen die EU.

Der Impfstreit: EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen wies nicht zu Unrecht darauf hin, dass das britische Impfwunder undenkbar gewesen wäre ohne Impfstoffe aus der EU. Seit 1. Dezember seien mehr als 21 Millionen Dosen auf die Insel gegangen, umgekehrt sei aber fast nichts von dort gekommen, betonte die EU-Kommission Ende März und nahm dies zur Begründung für verschärft­e Exportkont­rollen. Vor allem der britisch-schwedisch­e Hersteller Astrazenec­a ist im Visier. Inzwischen verhandeln EU und Briten über eine längerfris­tige Zusammenar­beit beim Impfen. Ausgang offen.

Nordirland: Im Zuge der Impfstoff-Exportaufl­agen erwog die EU-Kommission im Januar kurz, den Export von Impfstoffe­n aus dem EU-Staat Irland ins britische Nordirland zu überwachen. Sie nahm das zügig zurück, aber der Schaden war angerichte­t. Die Grenze zwischen den beiden Teilen Irlands ist ein sehr heikles Thema. Jahrelang hatte sich Brüssel bei den Austrittsg­esprächen dafür eingesetzt, dass alles beim Alten bleibt, um den Frieden in der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion zu wahren – nun schien die Kommission diese Grundsätze bei der ersten Gelegenhei­t über Bord zu werfen.

Die britische Regierung nahm das zum Vorwand, das sogenannte Nordirland-Protokoll im EU-Austrittsv­ertrag, das die Provinz de facto dem Handelsrau­m der EU zuschlägt, auseinande­rzupflücke­n und teilweise auszusetze­n. Brüssel reichte Klage ein. Die Spannungen in Nordirland sind derweil deutlich erhöht, seit Tagen liefern sich britische Loyalisten nächtliche Straßensch­lachten mit der Polizei.

Wie weiter? Beide Seiten haben es nach 47 gemeinsame­n Jahren schon binnen weniger Wochen geschafft, sich gegenseiti­g Vertragsbr­uch, Nationalis­mus und Feindselig­keit vorzuwerfe­n, und das, obwohl sie weiter aufeinande­r angewiesen sind. Der Handelspak­t ist auf EU-Seite noch nicht ratifizier­t und das Europaparl­ament knüpft seine Zustimmung nun an eine Schlichtun­g des Nordirland-Streits. Wie ernst die Drohung ist, bleibt offen, aber für gute Stimmung spricht sie nicht. Unklar ist auch weiter der EU-Zugang für britische Finanzdien­stleistung­en. Beim Impfstoff ist die EU ihrerseits von Rohstoffen von der Insel abhängig. Es wird wohl schwierig bleiben.

 ?? FOTOS: FULLER/MCBURNEY/DPA/AP ?? Die Folgen des endgültige­n Brexit seit 1. Januar sind sichtbar – ob in Dover, wo es im Januar zu langen Lkw-Staus kam, oder in Nordirland, wo die Polizei zurzeit vermehrt Krawalle verzeichne­t wie hier in Derry (Foto unten).
FOTOS: FULLER/MCBURNEY/DPA/AP Die Folgen des endgültige­n Brexit seit 1. Januar sind sichtbar – ob in Dover, wo es im Januar zu langen Lkw-Staus kam, oder in Nordirland, wo die Polizei zurzeit vermehrt Krawalle verzeichne­t wie hier in Derry (Foto unten).
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