Der Flaneur, der Moral mit Tinte herausfordert
Keiner hat Laster und Langeweile des Großstädters so besungen wie Charles Baudelaire. Und er setzte den Modernisierungsverlierern des 19. Jahrhunderts ein Denkmal. Der Mann, der so zum Prototyp des modernen Dichters wurde, kam vor 200 Jahren zur Welt.
Mehr Erfolg hatte er mit seinen Berichten über Kunstausstellungen. Opium und Alkohol kosteten Geld, daher war Baudelaire ständig in Not. „Diese trug bei zu einer großen Sensibilität für die vielen Modernisierungsverlierer“, erklärt Hülk-Althoff: „Arme, Alte, Trinker, Drogenabhängige. In seiner Dichtung verewigte er diese Sozialfiguren und gab ihnen Würde und Form.“
An der Februarrevolution 1848 beteiligte sich Baudelaire zunächst mit Begeisterung, zog sich aber nach dem Putsch von Louis Napoléon Bonaparte 1851 ins Dichterstübchen zurück. Der Gedichtzyklus, den er dort schuf, erschien zwei Jahre nach der Weltausstellung von 1855 unter dem Titel: „Les Fleurs du Mal“(„Die Blumen des Bösen“) – und trug ihm einen Prozess wegen Beleidigung der öffentlichen Moral ein.
Das „Böse“lässt schon das Eingangsgedicht „An den Leser“erahnen: „Doch unter ... dem Gezücht/ Der Monster, das da faucht, knurrt, kreischt und kriecht/In der infamen Menagerie all unserer Perversionen//Ist ein verworfener, böser, ekler noch zu nennen! ...Der Überdruss!“
An Lebensüberdruss, Langeweile und Entfremdung, auf Französisch „ennui“, litt Baudelaire zeitlebens. Schon der stoische Philosoph Seneca, gestorben 65 nach Christus, hat den Überdruss gekannt. Er nannte ihn auf Lateinisch „taedium vitae“: Lebensekel. Drei Jahrhunderte nach ihm entwickelte der griechische Mönch Evagrius Ponticus ein Schema von acht Lastern, aus dem später die Lehre von den „sieben Todsünden“hervorging. Der Überdruss am Leben galt neben dem Stolz als die schlimmste.
Die ersten 85 seiner 100 Gedichte hat Baudelaire unter dem Titel „Spleen und Ideal“zusammengefasst. Er rang um eine moralische Position. Den „Ennui“habe er vorzugsweise den „spleen“genannt, sagte der Romanist Jürgen Ritte dem Deutschlandfunk, „in der Hoffnung, sich mit diesem modernen englischen Begriff deutlicher von den romantischen Melancholikern, seinen Vorgängern, absetzen zu können“.
„Der Spleen de Paris“, ein Band mit früher Lyrik, Prosagedichten und „Le Fanfarlo“, erschien erst posthum 1869. Baudelaires erster Übersetzer ins Deutsche war 1891 Stefan George, 1914 übersetzte Walter Benjamin die „Fleurs du Mal“.
Baudelaire starb 1867 mit nur 46 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls in einer Pariser Nervenheilanstalt. Auf dem Friedhof Montparnasse ist er begraben. Sein Freund, der Maler Édouard Manet, hielt die Bestattung in seinem Gemälde „Das Begräbnis“fest: eine kleine Trauergruppe, dominiert von einem aufgewühlten, grauen Himmel und der steinernen Stadt-Silhouette von Paris.