Saarbruecker Zeitung

In Nordirland eskaliert die Gewalt weiter

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„Es gab nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden“, steht als Mahnung und Erinnerung in großen Lettern auf dem Tor. Es ist Teil der sogenannte­n „Friedensma­uern“, die im nordirisch­en Belfast bis heute unter anderem die protestant­isch-unionistis­che Shankill Road und die katholisch-republikan­ische Springfiel­d Road trennen – und damit zwei Seiten, die sich seit Jahren um Versöhnung bemühen. Doch kurz nach Ostern standen an dieser Stelle Autos in Flammen und Rauchschwa­den zogen in den Nachthimme­l, nachdem Hunderte junger Menschen auf beiden Seiten Molotowcoc­ktails geworfen hatten. Am Mittwoch dann attackiert­en am sechsten Abend in Folge vermummte Angreifer Polizisten mit Steinen, Flaschen und Brandbombe­n und warfen Brandsätze in einen Doppeldeck­erbus, der später komplett ausbrannte. Der Vorfall ereignete sich ebenfalls an einer Kreuzung zwischen einem loyalistis­ch-protestant­ischen und einem nationalis­tisch-katholisch­en Wohnvierte­l in Belfast. Ähnlich verstörend­e Angriffe gab es in Derry/Londonderr­y und anderen Orten der Provinz. Insgesamt wurden bereits 55 Polizeibea­mte verletzt.

Es sind Szenen, die Entsetzen auslösten und an die blutige Vergangenh­eit erinnern, die doch eigentlich überwunden geglaubt war. Was am Mittwochab­end passiert sei, „ist von einem Ausmaß, das wir seit Jahren nicht erlebt haben“, sagte der Beamte Jonathan Roberts. Umso mehr bemühten sich Regierungs­vertreter, die Gemüter zu beruhigen. „Zerstörung, Gewalt und die Androhung von Gewalt sind vollkommen inakzeptab­el und nicht zu rechtferti­gen“, erklärten Politiker beider konfession­eller Lager am Donnerstag in einem Statement nach einer Kabinetts-Sondersitz­ung. Die Provinz wird von einer Einheitsre­gierung der jeweils größten Parteien

von protestant­isch-unionistis­cher und katholisch-republikan­ischer Seite geführt. „Der Weg, Meinungsve­rschiedenh­eiten zu lösen, ist durch Dialog, nicht durch Gewalt oder Kriminalit­ät“, schrieb Premiermin­ister Boris Johnson auf Twitter.

Den Sicherheit­sbehörden zufolge stecken hinter den jüngsten Ausschreit­ungen teils militante protestant­isch-loyalistis­che Gruppierun­gen, die auch im Drogenhand­el tätig sind. Anlass ist nach Angaben der Protestier­enden die Entscheidu­ng der Staatsanwa­ltschaft, hochrangig­e Politiker der katholisch-republikan­ischen Partei Sinn Féin, dem ehemals verlängert­en politische­n Arm der Terrorgrup­pe IRA, nach der Teilnahme an der großen Beerdigung des Republikan­ers Bobby Storey nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen. Hinzu kommen die wachsenden Probleme seit dem Brexit. Der Sonderstat­us des Landesteil­s stößt in Teilen des protestant­ischen Lagers auf Widerstand. Die Loyalisten in Nordirland befürchten, dass sich die Provinz aufgrund des im EU-Austrittsv­ertrag festgeschr­iebenen und äußerst kontrovers­en Nordirland-Protokolls weiter von Großbritan­nien entfernt. Laut diesem wurde de facto eine Grenze zwischen Großbritan­nien und Nordirland errichtet, inklusive erforderli­cher Warenkontr­ollen. So wollten Brüssel und London verhindern, dass es eine feste Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland gibt, was das Karfreitag­sabkommen verletzt hätte.

Es ebnete 1998 den Weg zu einem offizielle­n Frieden in Nordirland. Am 10. April unterzeich­neten Vertreter der britischen und irischen Regierunge­n sowie der nordirisch­en Parteien den historisch­en Friedensve­rtrag, der neben einer Polizeiref­orm, einer Entwaffnun­g aller paramilitä­rischen Organisati­onen, der Amnestie für politische Gefangene auch ein Ende der Direktherr­schaft aus London vorgab. Fast auf den Tag genau 23 Jahre sind seither vergangen, doch die Wunden keineswegs verheilt, wie die letzten Tage gezeigt haben.

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