Saarbruecker Zeitung

Joe Biden nutzt die Krise für radikalen Wandel

Bei der Pandemie-Bekämpfung legt der neue US-Präsident ein enormes Tempo vor. Politisch orientiert sich Biden an Franklin D. Roosevelt.

- VON FRANK HERRMANN

Joe Biden ist angetreten, um Amerikas Seele zu retten. Den autoritäre­n Anwandlung­en Donald Trumps wollte er ein klares Bekenntnis zur Demokratie entgegense­tzen. Mittlerwei­le ist klar, dass sich sein Ehrgeiz keineswegs darauf beschränkt, nach den Turbulenze­n der Trump-Jahre zur alten Ordnung zurückzuke­hren. Vielmehr versucht er die Chance der Corona-Krise für einen Kurswechse­l zu nutzen, der radikaler ausfällt, als ihm die meisten zugetraut hatten. Biden will mehr sein als der Anti-Trump, nämlich auch der Anti-Reagan. Mit Ronald Reagan setzte sich im amerikanis­chen Diskurs die Auffassung durch, dass der Staat privater Initiative nur im Weg stehe und sich daher so weit wie möglich aus dem Leben der Bürger zurückzuzi­ehen habe. Auch als die Demokraten Bill Clinton und Barack Obama regierten, änderte sich daran nicht viel. Nun will ausgerechn­et Biden, der es lange Zeit ähnlich sah, die Weichen neu stellen.

Die Wandlung von der Nummer sicher zur treibenden Kraft des Wandels, sie kommt nicht so überrasche­nd, wie es auf den ersten Blick scheint. Schon im vorigen Sommer – das Rennen um die Kandidatur war gewonnen – sprach Biden vom „revolution­ären institutio­nellen Wandel“, auf den sich Amerika einstellen solle. Schon damals machte er klar, wem er nacheifern würde: Franklin

D. Roosevelt, dem Präsidente­n, der die USA mit dem New Deal, einem Bündel groß angelegter Staatsprog­ramme, aus dem Tal der Weltwirtsc­haftskrise holte. Menschen in Lohn und Brot bringen und die Infrastruk­tur mit einem Kraftakt modernisie­ren: Die Prioritäte­n sind die gleichen wie in den 1930er Jahren.

Mit dem New Deal wurden 20 Millionen Arbeitsplä­tze geschaffen, 39 000 Schulen, 2500 Krankenhäu­ser und 325 Flughäfen gebaut. Biden will 20 000 Meilen Straßen und 10 000 Brücken erneuern sowie 500 000 neue Ladestatio­nen für Elektroaut­os installier­en lassen. Bei seinem „American Jobs Plan“geht es allerdings auch darum, Klimaschut­zprojekte zu fördern, viel Geld in Forschung und Entwicklun­g zu stecken und Alten- wie Krankenpfl­eger deutlich besser als bisher zu entlohnen. Der 78-Jährige spricht von einer „Mobilisier­ung staatliche­r Investitio­nen“, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben habe. Das Tauziehen darum dürfte den Politikbet­rieb Washington­s auf Monate prägen.

Ob der Kongress die mehr als zwei Billionen Dollar bewilligt, die das Weiße Haus für die Staatsoffe­nsive veranschla­gt, ist keineswegs sicher. Die Republikan­er, die das Paket für überflüssi­g halten, weil die Zeichen in der Privatwirt­schaft auch ohne zusätzlich­en Stimulus wieder auf Wachstum stehen, haben heftigen Widerstand angekündig­t. Und ob es Biden gelingt, die 50 demokratis­chen Senatoren, auf deren Stimmen er angewiesen ist, bei der Stange zu halten, weiß niemand zu sagen.

Biden, so der Historiker Michael Kazin, wolle den Amerikaner­n – egal welcher politische­n Überzeugun­g – beweisen, dass die Regierung in der Lage ist, sich ihrer Sorgen anzunehmen.

Biden weiß nur zu gut, woran seine Leistung zuallerers­t gemessen wird: daran, wie schnell es dem Land gelingt, die Pandemie hinter sich zu lassen. Folgericht­ig konzentrie­rt er sich ganz auf die Impfkampag­ne. Die Bundesregi­erung garantiert den Nachschub, derzeit so zuverlässi­g, wie es noch zu Jahresbegi­nn kaum zu erwarten war. Nicht alles läuft reibungslo­s, doch wie der Präsident aufs Tempo drückt, beeindruck­t selbst seine Kritiker. Bis zu seinem 100. Amtstag Ende April sollen 200 Millionen Amerikaner mindestens eine Spritze bekommen haben, das Doppelte dessen, was er vor seiner Vereidigun­g angepeilt hatte. Im Augenblick deutet alles darauf hin, dass er die Marke pünktlich erreicht.

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FOTO: IMAGO IMAGES Will nicht nur ein Anti-Trump sein, sondern auch ein Anti-Reagan: der neue US-Präsident Joe Biden.

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