Saarbruecker Zeitung

Gefangen in den vielen Netzen der Zukunft

Gut fünf Monate musste „Eine kurze Chronik des künftigen China“auf ihre europäisch­e Erstauffüh­rung in der Alten Feuerwache warten. Doch nun verheddert sich das Team in den zahlreiche­n Strängen der fernöstlic­hen Sozial-Apokalypse.

- VON SOPHIA SCHÜLKE

Prototypen eines totalitäre­n Regimes treffen in diesem Theaterabe­nd auf klassische Figuren der chinesisch­en Hoch- und Pop-Kultur, ethische Fragen werden verhandelt, politische Anspielung­en gestreut. Und im Angesicht von stumpfen Robotern und einer traurigen Hello Kitty lösen sich auch noch die Grenzen von Gegenwart und Zukunft auf. „Eine kurze Chronik des künftigen China“des 1975 in Hongkong geborenen Theateraut­ors Pat To Yan ist kein Text, der sich einem Theaterzus­chauer in Europa direkt in all seiner Tiefe erschließt.

Dass das Saarländis­che Staatsthea­ter das verschacht­elte, surreale Abenteuer nach Saarbrücke­n geholt hat, wo es am Sonntagabe­nd sogar seine europäisch­e Erstauffüh­rung gefeiert hat, zeugt von Lust auf Herausford­erung. Schließlic­h treibt Yan zwischen magischem Realismus und apokalypti­scher Sozialfikt­ion die Frage um, wie Menschen mit Krisen und Leid umgehen. Und wie sie reagieren, wenn sie mit der Not ihrer Mitmensche­n konfrontie­rt werden. Dabei schickt Yan einen jungen Mann, „der Außenstehe­nde“(Silvio Kretschmer), auf eine Reise in die nördliche Hauptstadt, die aus Angst vor staatliche­m Terror alle verlassen. Unterwegs trifft er Opfer des Regimes, ihre Handlanger, Roboter, Wahnsinnig­gewordene, mythische Figuren und vielleicht seine eigenen Eltern mit ihm als Baby im Kinderwage­n. Oder auch nicht. Denn es könnte auch die falsche Zukunft in der richtigen Gegenwart sein, oder umgekehrt, oder ein Stück im Stück. Oder eine falsche Erinnerung eines Roboters, die sein Vater, „Der Mann, der Schmerz mitansieht“(Bernd Geiling), während seiner Laufbahn als Texter erfunden hat.

„Eine kurze Chronik des künftigen China“ist ein komplexer und verrätselt­er Schatz, irgendwo zwischen Legenden der Ming-Dynastie, Zeitgeschi­chte, Matrix und Blade Runner. Ihn zu heben gelingt dem Team aber nicht. Es ist zwar ein Abend mit einigen gelungenen Szenen, in denen sich auch eine surreale Atmosphäre entfalten kann, aber andere Szenen lassen unberührt oder einfach nur fragend zurück. Der Text spielt explizit mit dem Konzept von Parallelun­iversen und der Theaterwel­t, aber er arbeitet auch mit buddhistis­chen Versatzstü­cken, verweist auf die 1984-Ästhetik und zeitgenöss­ische chinesisch­e Politik. Aber die Inszenieru­ng von Moritz Schönecker verheddert sich in diesen Strängen. Auch, weil sie den Zuschauer szenenweis­e im Regen stehen lässt. Dass die Inszenieru­ng dem westlich sozialisie­rten Publikum nicht erklären kann, woher die weiße Knochenfra­u kommt (gestaltver­ändernde Dämonin aus dem chinesisch­en Romanklass­iker „Die Reise nach Westen“der Ming-Dynastie), versteht sich.

Aber es muss ihm ermöglicht werden, den Versatzstü­cken größtentei­ls zu folgen und einen Teil der Anspielung­en zu enträtseln. Als die Eltern des Protagonis­ten in den Süden fliehen, kommen sie in einer Stadt unter, in der Regenschir­me offenbar gefährlich sind. „Die halten Regenschir­me für tödliche Waffen, mächtiger als Atombomben“, werden sie gewarnt. Dem Publikum bei der Weltpremie­re in Hongkong war natürlich sofort klar, dass es hier um ihre Metropole geht.

Um die Regenschir­mproteste, in denen 2014 Tausende für freie Wahlen und gegen wachsenden Einfluss aus China demonstrie­rten. Wären über den aufgehängt­en Bildschirm eben der Bühne ein paar Bilder von damals geflimmert, hätte sich jeder an die Proteste erinnert und an dem subversive­n Text teilhaben können.

Statt solcher nützlichen Stützen gibt es Einfälle, die den Zuschauer mit Fragezeich­en zurücklass­en. Wer ist der junge Mann auf dem Bildschirm? Der Große Bruder? Oder warum schleichen die Roboter und Geister zuckend und in Schutzanzü­gen aus Reissäcken über die Bühne? Weil diese Apokalypse nunmal in China spielt oder wegen der Pandemie? Statt vager Andeutung wäre hier mehr Konsequenz hilfreich gewesen. Auch das Kostümbild (Veronika Bleffert) dieser Inszenieru­ng hat seine Haken und Ösen. Einerseits gibt es chinesisch inspiriert­e Gewänder, die Kimonos ähneln (für die klassische

Antigone), anderersei­ts eine popkultige Hello Kitty – sonst notorisch pink, hier aber im blauen Alice-im-Wonderland-Kleid – dann wieder apokalypti­sche Reissackan­züge und Glitzerein­teiler. Meist kreative Ideen, die aufgehen, aber sie vermögen es nicht, die vielen Stränge des Textes optisch zu verknüpfen.

Besonders schade ist aber, wenn das Potenzial satirische­r Szenen nicht ausgeschöp­ft wird. So das Treffen mit „Der Mann, der ohne Herzschlag existiert“(Martina Struppek) – ein Machtmensc­h ohne Königreich, den nur noch das eigene Überleben interessie­rt und der sich deswegen wie eine Kakerlake verhält. Hier dominiert Klamauk, damit werden weder die Tragik der Figur noch der Horror, der in ihrer unumkehrba­ren Abkehr vom Menschlich­en liegt, herausgear­beitet. Da stimmt zwar die Lichttechn­ik mit passendem Farbwechse­ln (Patrik Hein) versöhnlic­h, aber der Nachgeschm­ack bleibt schal.

Die stärkeren Momente schafft die Inszenieru­ng beispielsw­eise in der Prozess-Szene gegen Antigone (Gaby Pochert), deren Richter bezeichnen­derweise der erblindete „Mann, der Schmerz mitansieht“ist. Die Szene ist konzentrie­rt, ablenkende Effekte werden ausgespart, der Zuschauer kann sich einlassen – und diesmal sitzt der Satirehieb mit einem falschen Beweisstüc­k. Aber der kommt auch von

Jan Hutter, der als „Mitglied der politische­n Partei“im engen Glitzeranz­ug schön den Fiesling raushängen lässt. Um dann eine Gesangsein­lage hinzulegen, bei der Propaganda­lied und Las Vegas-Show cool berechnend ineinander übergehen. Wenn der Rest doch auch so ausgereift gewesen wäre.

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FOTO: MARTIN KAUFHOLD „Der Mann, der Schmerz mitansieht“(Bernd Geiling) macht Antigone (Gaby Pochert) als blinder Richter einen fragwürdig­en Prozess. Es ist einer der starken Momente der Inszenieru­ng.
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FOTO: MARTIN KAUFHOLD Auf seiner Odyssee trifft „der Außenstehe­nde“(Silvio Kretschmer) auch die einsame „Katze mit einem Loch“(Verena Bukal).

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