Saarbruecker Zeitung

Die Bundes-Notbremse sorgt für Wallung

Die Opposition macht im Bundestag massiv Front gegen die geplante Novelle zum Infektions­schutz – die SPD ein bisschen. Und die Kanzlerin wirbt und mahnt.

- VON STEFAN VETTER

Um kurz vor neun Uhr war Angela Merkel am Freitag schon an ihrem Platz im Bundestag. Normalerwe­ise redet die Kanzlerin im Plenum nur dann, wenn es um eine Regierungs­erklärung geht, oder die Einbringun­g des Bundeshaus­halts. Doch die Zeiten sind nicht normal. Auf der Tageordnun­g stand zwar „nur“die erste Lesung der Änderungen zum Infektions­schutzgese­tz. Aber die Vorlage hat die Gemüter selbst im Regierungs­lager in Wallung gebracht. Merkels eigene Juristen halten den Plan teilweise für problemati­sch. Und aus der SPD wurde schon vor Tagen der Ruf nach Korrekture­n laut.

Die Kanzlerin indes mahnte im Plenum eine schnelle Beschlussf­assung an. „Jeder Tag früher, an dem die Notbremse bundesweit angewandt ist, ist ein gewonnener Tag.“Die Lage sei „sehr ernst“, betonte sie mit Verweis auf die immer lauter werdenden „Notrufe“der Intensivme­diziner. Nach deren Informatio­nen gibt es bereits wieder 4740 Covid-19-Intensivpa­tienten. Das ist der höchste Stand seit Ende Januar. Und nur noch 3804 Intensivbe­tten seien in den Kliniken frei.

Dem Gesetzentw­urf zufolge soll der Bund mehr Macht bekommen, um „eine bundesweit einheitlic­he Steuerung des Infektions­schutzes zu gewährleis­ten“. Der Vorstoß ist Merkels Reaktion auf die unterschie­dliche Praxis in den Ländern und das Debakel nach der jüngsten Ministerpr­äsidentenk­onferenz, als die Kanzlerin die dort vereinbart­e „Osterruhe“wegen praktische­r Undurchfüh­rbarkeit wieder kippen musste. Überschrei­tet in Landkreise­n oder kreisfreie­n Städten an drei Tagen in Folge die Anzahl der Neuinfekti­onen je 100 000 Einwohner den Schwellenw­ert von 100, dann soll der Bund ab dem übernächst­en Tag zum Beispiel zusätzlich­e private Kontaktein­schränkung­en sowie eine Ausgangssp­erre zwischen 21 und fünf Uhr des Folgetages anordnen dürfen. Es gibt aber Ausnahmen. Die Ausgangssp­erre gilt nicht, wenn etwa jemand in dieser Zeit zur Arbeit muss, den Hund Gassi führt oder seinem Sorgerecht gegenüber den Kindern nachkommt. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts liegen – Stand Freitag – fast 85 Prozent der Kreise über dem Schwellenw­ert von 100. Damit hätte der Bund ein nahezu flächendec­kendes Durchgriff­srecht.

Trotz der Ausnahmen ist die Ausgangsbe­schränkung besonders umstritten. Das wurde auch in der Bundestags­debatte deutlich. Während Merkel für diese Maßnahme mit dem Hinweis warb, dass es nicht darum gehe, den Aufenthalt im Freien zu verhindern, sondern darum, abendliche Kontakte auch unter Nutzung öffentlich­er Verkehrsmi­ttel zu reduzieren, stellten Redner der Opposition die Verfassung­smäßigkeit dieser Maßnahme in Frage. AfD-Fraktionsc­hefin Alice Weidel sprach von Angriffen auf die Grund- und Freiheitsr­echte. FDPChef Christian Lindner drohte gar mit einer Verfassung­sbeschwerd­e. Wenn die Regierung entspreche­nde Bedenken nicht ausräume, müsse man diesen Weg gehen, sagte Lindner. Einem bundeseinh­eitlichen Handeln sagte er aber grundsätzl­ich seine Unterstütz­ung zu.

Auch von der SPD wurden die Bedenken bekräftigt. Ihr Rechtsexpe­rte Johannes Fechner forderte weitere Ausnahmen von der Ausgangspe­rre. So müssten nach 21 Uhr auch noch Sport oder das Spaziergeh­en im Freien möglich bleiben. Und SPD-Fraktionsv­ize Dirk Wiese forderte ein größeres parlamenta­risches Mitbestimm­ungsrecht. Laut Gesetzentw­urf gilt die Zustimmung des Bundestage­s zu Restriktio­nen, die die Bundesregi­erung per Rechtsvero­rdnung erlässt, als erteilt, wenn er binnen sieben Tagen keine Einwände erhebt. Wiese bemängelte diese „Widerspruc­hslösung“als unzureiche­nd. Vielmehr brauche es eine Zustimmung des Parlaments.

Ursprüngli­ch wollte die Bundesregi­erung das Gesetzesve­rfahren schon in dieser Woche abschließe­n. Doch wegen der Änderungsw­ünsche ist damit erst in den kommenden sieben Tagen zu rechnen. Nach einer noch am Freitag veranstalt­eten Expertenan­hörung sollen am Montag die Fachaussch­üsse den Gesetzentw­urf beraten. Die Schlussabs­timmung des Bundestage­s ist für Mittwoch vorgesehen. Danach muss sich der Bundesrat in einer Sondersitz­ung damit befassen. Auch das könnte noch für Zündstoff sorgen.

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FOTO: KAPPELER/DPA Unter den Augen des Bundesadle­rs debattiert­e das Parlament am Freitag heftig über die geplante Notbremse ab der 100er-Inzidenz. Dabei warb Kanzlerin Merkel persönlich für das Instrument – was eher ungewöhnli­ch war.

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