Einmal volle Dosis Leben in West-Berlin
In den 80er Jahren tobte sich in Berlin die Rebellion gegen den Kapitalismus in den Kneipen aus. Ulrich Peltzer lässt sie in seinem Roman „Das bist du“wiedererstehen.
The Cortortions oder die Cars und ist „von dem Gebot, absolut modern zu sein, vollkommen überzeugt. Es trieb mich raus, Entscheidendes könnte verpasst werden“. Er will ganz vorne dabei sein, will Intensität inhalieren, will sich die volle Dosis Leben holen.
Wie so viele andere macht er permanent die Nacht zum Tage, zieht in wechselnder Besetzung von Bar zu Bar. Alkohol, Tabletten, Pilze, Shit und Koks: alles ist recht, solange es als Katalysator taugt. „Sich zu verausgaben, war die Grundbedingung, keine Frage, nur so konnte Neues entstehen.“Avantgarde sein, bloß nicht Nachzügler – das typische Berlin als Nabel-der-Welt-Getue also, wenn man so will. Hinter jeder Ecke oder Begegnung, jedem Song oder Wort kann sich eine neue Welt auftun. „Als hätte man eine Ewigkeit in schlammigem Gelände Ära gehört für Peltzer, ein ganzes Arsenal mehr oder weniger schräger, bloß aber nicht überzeichneter Typen aufzubieten, mit denen sein 23-jähriger Protagonist, dessen Halbwaisenrente bald aufgebraucht ist, sodass er sich nebenbei als Kartenabreißer im Kino verdingt, umherzieht und eher pro forma studiert (Psychologie). Ob Lambert, Nils, Hartwig, Edoardo, Iris oder Jutta: Selbstfindung ist ihr Mantra und Bürgerlichkeit ihr Schreckgespenst. Peltzers Roman dekonstruiert hingebungsvoll die Illusion jeder Folgerichtigkeit und Geradlinigkeit von Lebensentwürfen. Was wir Leben nennen, bleibt ein Sammelsurium aus Szenen, Etappen, Zufällen, Entwürfen und Möglichkeiten. Formal dekliniert „Das bist du“dies durch, indem Peltzer seine zeitlichen und perspektivischen Mischungsverhältnisse offenlegt. Er nennt es an einer Stelle „Jump cuts durch die Zeit“. Realitäten und Visionen, Geschehnisse und Gedanken fließen ineinander, werden ununterscheidbar: „Sicher gibt es eine Verbindung, worin sie jedoch genau besteht, interessiert mich nicht.“Jedes Ich, darauf läuft diese Poetologie hinaus, ist sowieso Erfindung. Es bleiben als Wahrnehmung von sich immer „nur Bruchstücke, nie passgerecht“.
Peltzers Ich in „Das bist du“, dem der Autor nachsinnt, ist damals noch ein im Werden begriffener Schriftsteller. „Vom Leben, setzte sich in meinem Kopf fest, wie es einem täglich begegnet, wäre zu erzählen. (…) Als hätte die Kunst einen Auftrag. Hat keinen, außer dem, aufrichtig zu sein. Zu schildern, wie sie die Nächte durchspielen, die Hast, die Besessenheit all der Glückssucher, der Fiebernden.“Insoweit ist „Das bist du“auch das offenherzige Dokument einer literarischen Sozialisation. Vor allem aber ist Peltzers
Buch ein Liebesroman. Nach einem Joe-Jackson-Konzert im Metropol, lernt das Erzähl-Ich die in Rolf Dieter Brinkmanns legendärem Gedichtband „Rom, Blicke“versunkene Leonore kennen. Schnell verfällt er ihr und will mit ihr gemeinsam gegen jede Einhelligkeit und Eintönigkeit anrennen und hinter den Vorhang aus Vergeblichkeiten, Verstellungen und Vortäuschungen treten: Bühne frei für das unbedingte, wahre Leben! „Alles immer ausgelöscht in Lust, Schweiß, Erschöpfung.“
Und doch wird es, jedenfalls auf Dauer, anders kommen: Die Liebe wird, nach einem berauschenden, den ersten Teil des Buchs tragenden Zwischenspiel, kein gutes Ende nehmen. Und Peltzers Roman, womit wir zu seinen Schwächen kommen, kein ganz tragfähiges Erzählkonzept mehr finden, um diese gegenwartsschwangeren Jahre bis an ihr und an sein Ende ohne lauter Reprisen am Leben zu halten. Mit der Zeit nutzt sich das notorische Patchwork-Verfahren des Romans ab – das andauernde Aneinanderreihen
oder Gegeneinanderschneiden von Reflektionen, Szenen, Erinnerungsfitzeln und Konstrukten büßt seinen erzählerischen Kitzel ein und wird absehbar, ja Masche.
Nicht nur, weil wir irgendwann verstanden haben, dass Peltzers Protagonist, ehe er zuletzt sein Studium beendet und einen Job in einem psychologischen Institut annimmt, zwar partout Vorhut sein will, zugleich aber seine Selbstzweifel nie verlieren wird. Genauso überdeutlich geworden ist irgendwann auch, dass ihm Zukunftsplanung völlig fremd ist, die Vergangenheit jedoch in ihm weitergärt und nichts Abgeschlossenes hat. Umso mehr, wenn man wie Peltzers autobiografischer Wegweiser ein feines Sensorium für das Mäandernde hat, das mit all seinen Nebenflüssen und Rinnsalen Verlauf und Strömungsverhalten im Delta des Lebens gestern, heute und morgen variiert und dabei beständig mehr und mehr semantisches Sediment aufhäuft.Und doch: Bei allen Längen und Wiederholungen bleibt „Das bist du“durch sein Ausloten des Wahrheitspotentials von Literatur ein stellenweise fesselnder Werkstattbericht. Schreiben ist für Peltzer ein Untertauchen, ein Aufwühlen des Bodens, auf dem man geht und steht. Ein Schürfen im Bodensatz abgesunkener Zeitschichten und den darin aufgehobenen Versionen eines Lebens. „Eine Sprache, eine Form suchen als Ausdruck meiner selbst“, formuliert es Peltzer. Sein Romantitel ist also ganz wörtlich zu verstehen.