Wirth ist Spitzenkandidat der saarländischen AfD
Soziologe der Saar-Uni analysiert den Wandel der Solidarität in einem Jahr Pandemie – und warnt vor gefährlichen Entwicklungen.
Die AfD hat als erste Partei im Saarland die personellen Weichen für die Bundestagswahl gestellt. Sie wird mit ihrem 57-jährigen Landeschef und Bundestagsabgeordneten Christian Wirth als Spitzenkandidat in die Wahl Ende September ziehen.
Warum ist von der Welle der Solidarität, die zu Beginn der Pandemie durchs Land wogte, heute kaum mehr etwas zu spüren? Für den Soziologen Professor Wolfgang Meyer von der Universität des Saarlandes sind die Solidaritäts-Bekundungen vor einem Jahr wie ein durch Schock ausgelöster Schluckauf auf dem längst eingeschlagenen Weg in eine immer egoistischere Gesellschaft. In der Corona-Krise sieht der 61-Jährige aber gerade deshalb auch eine Chance – mit weitreichenden Folgen selbst für den Kampf gegen den Klimawandel.
Herr Professor Meyer, während des ersten Lockdowns gab es eine Welle der Solidarität mit Pflegepersonal oder Kassierern. Heute ist von dieser Solidarität kaum etwas zu spüren. Gymnasiallehrer wollen früher geimpft werden, als es Supermarkt-Angestellten zusteht, Kirchen wollten Ostern nicht auf Präsenz-Gottesdienste verzichten (während Theater seit Monaten geschlossen waren) und Impfstoff-Export wurde erschwert, um die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern.Wie erklären Sie diesen Wandel?
MEYER Das ging ja schon viel früher los. Wir haben seit Jahren einen Verfall der Solidarität zu verzeichnen. Und durch Corona ist es wieder zu einer Welle der Solidarität gekommen. Zumindest in der Anfangsphase und für die von Ihnen erwähnten Gruppen. Das Problem wurde dann die Dauer dieser Krise und natürlich die Hilfslosigkeit der Politik. Es führte dazu, dass sich wieder – wie zuvor – jeder selbst der Nächste wurde und ist. Und die Solidarität mit den Leuten, die im Kampf gegen Corona gewissermaßen an der Front stehen, flachte wieder ab. Man nimmt inzwischen wieder für selbstverständlich, was man auch vor der Pandemie als selbstverständlich erachtete: Etwa, dass ein Pfleger oder eine Krankenschwester sich für das Heil anderer aufopfern. Der Pandemieschock ist weg. Der Abstumpfungsprozess ist heute so weit voran geschritten, dass viele etwa die aktuellen, alarmierenden Aussagen der Intensivmediziner nur noch mit einem
Schulterzucken abtun. Ich glaube auch nicht, dass das Solidaritätsempfinden aus den Anfangstagen der Pandemie zurückkommt. Dies ist bedingt durch einen weiteren, sehr bedenklichen gesellschaftlichen Effekt. Nämlich dass es größer werdende Gruppen gibt, die sich vernachlässigt und ausgegrenzt fühlen. Früher war das zum Beispiel Pegida. Inzwischen ist es die Querdenker-Bewegung, die dieses Gefühl auch auf die Corona-Krise überträgt. Der Beginn der Pandemie mit seinen Solidaritätsbekundungen hat diese Entwicklung für einen kurzen Zeitraum nur verdeckt.
Solidarität basiert auf dem Vertrauen von Gegenseitigkeit. Konkret: Wenn ich eine Mund-Nasen-Bedeckung trage, um eine Infektion von mir und anderen zu vermeiden, möchte ich, dass andere ebenfalls eine Maske tragen.Wenn diese Gegenseitigkeit häufiger nicht erfüllt wird, reduziert das meine Solidaritätsbereitschaft, oder?
MEYER Bei den FFP2-Masken ist das glaube ich nicht so, weil sie mich ja auch selbst schützen. Aber ich würde mal behaupten, wenn wir wie zu Anfang noch häufig Stoffmasken tragen würden, nur um damit das Gegenüber zu schützen, dann würden da mittlerweile sicher viele darauf pfeiffen und sie nicht mehr tragen. Ebenso befürchte ich, wenn jetzt die nächtliche Ausgangssperre kommt, wird das eine massive Polizeiaktion werden. Gerade viele junge Leute werden sich nicht daran halten.
Weshalb nicht?
MEYER Das klingt kurios, aber: Weil sie eher solidarisch sind mit ihrem eigenen Freundeskreis als mit der Großmutter. Die Gesellschaft erlaubt ihnen seit bald einem Jahr nicht, sich abends oder nachts zu treffen und zu vergnügen – das ist für sie uncool und wird immer weniger akzeptiert. Das ist ja überhaupt vielfach inzwischen die Grundhaltung – nicht nur bei der ,rebellischen Jugend’: Ich will mein Leben leben und lass’ es mir doch nicht von irgendwelchen Politikern vermiesen. Diese Solidarisierung mit der eigenen Gruppe und deren Interessen führt zu einer Entsolidarisierung mit der gesamten Gesellschaft.
Das ist eine gefährliche Tendenz.
Es gibt derzeit Stimmen, die sagen: Wer sich nicht mit dem umstrittenen Impfstoff Astrazeneca impfen lässt, handelt unsolidarisch – man impfe sich schließlich nicht nur für sich selbst, sondern auch zum Schutz der anderen. Dem entgegen steht die Sorge vor Komplikationen nach einer Astrazeneca-Impfung. Gibt es also Grenzen der Solidarität?
MEYER Es gilt immer abzuwägen zwischen dem individuellen Schutzbedürfnis und dem Risiko, andere zu infizieren – dies betrifft nicht nur das Impfen oder die Verwendung eines bestimmten Impfstoffs. Die Grenze der Solidarität wird letztlich immer von der individuellen freien Entscheidung bestimmt. Es gibt extrem egoistische Menschen, aber auch viele altruistische. Letztere sind der Kitt unserer Gesellschaft. Es gibt kein Dogma für die Grenzen der Solidarität und sie kann auch nicht von Regierungen oder Experten festgelegt werden, das
tun die Menschen selbst.
Andererseits erfüllt Solidarität nur dann ihren Zweck, wenn sie keine Grenzen kennt. Denn dem Klimawandel zu begegnen oder die Corona-Krise zu überwinden wird wohl nur gelingen, wenn alle mitziehen…
MEYER Wie schon erwähnt, ist unsere auf Konkurrenzdenken beruhende Gesellschaft immer egoistischer geworden. Solidarität hat nicht mehr den Stellenwert, den sie früher einmal im Rahmen der Großfamilien und Dorfgemeinschaften hatte. Aber genau da sehe ich durch die Corona-Krise auch eine Chance, denn sie bedingt – genauso wie der Klimawandel – eine solidarische Zusammenarbeit, damit wir sie überwinden können. Ausgrenzung und Konkurrenzdenken verschärft die Krise nur, das haben wir schon im letzten Jahr zum Beispiel durch die Grenzschließungen hier im Saarland erlebt. Globale Krisen führen hoffentlich auch zu der Erkenntnis, dass die Politik nur mit uns Bürgern gemeinsam diese bewältigen kann und dies nicht im kleinen Zirkel von oben zu steuern ist. Dass wir nur solidarisch bestehen können und nicht, indem von oben herab geradezu diktatorisch massive Eingriffe in das Leben der Menschen wie zum Beispiel mit Ausgangssperren oder Lockdowns in der Corona-Krise verordnet werden. Das gilt genauso für den Kampf gegen den Klimawandel. Es gibt durchaus eine Sehnsucht nach Solidarität, die sich meines Erachtens zum Beispiel in der weltweiten Renaissance des Nationalismus und dem dort erzeugten Wir-Gefühl ausdrückt.
Steht die vielfache Klage über Einschränkungen von Freiheitsrechten in der Corona-Krise nicht im Widerspruch zu einer gelebten Solidarität? Oder anders formuliert: Wird Freiheit gegen Solidarität ausgespielt?
MEYER Es gibt die Freiheit des Individuums und die des Andersdenkenden, die man respektieren muss und die Kompromisse notwendig macht. Das heißt, ich muss etwas von meiner Freiheit abgeben, damit der andere auch in Freiheit leben kann. Das ist Solidarität. Und da gibt es gerade jetzt erhebliche Konflikte. Denn unsere Gesellschaft hat in der Vergangenheit gerade die individuelle Freiheit enorm ,gepusht’, jetzt in der Pandemie aber muss jeder zugunsten der Allgemeinheit zurückstehen. Eine Seuche, die uns alle betrifft, kann man nur kollektiv bekämpfen. Wenn wir das nicht tun, werden wir am Ende alle darunter leiden. Und mir scheint, genau das passiert gerade. Aber es gibt auch Hoffnung: Es gibt sehr viele Menschen, die kreativ Ideen entwickeln, wie sie in ihrem Umfeld die Pandemie bekämpfen können – und sind dafür auch zu Opfern bereit. Wir sollten meiner Meinung nach viel mehr über diese positiven Beispiele gelebter Solidarität reden und diese als Vorbild nehmen, statt immer nur über Fehler vermeintlich egoistisch motivierter Menschen herzuziehen und über deren Bestrafung nachzudenken.