Bühnen-Hochgenuss lässt Texte glänzen
Christine Münster-Domke erweckte Worte zum Leben. Und ein Mensch im Saal des Theaters im Viertel war hin und weg. Die einzige Zuschauerin.
In Pandemie- und Kriegszeiten rückten die Menschen oft zusammen, um sich mit Geschichten auf andere Gedanken zu bringen. Zumindest suggerierten das erfolgreiche Geschichtenerzähler wie Giovanni Boccaccio im „Il Decamerone“und der alte Goethe
in seinen „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“.
Und wie ist das heute? In Saarbrücken? Als das rührige Theater im Viertel (TiV) am Wochenende zum ersten Mal seit November die Türen für Publikum öffnete, dachte sich Frau N., wie sie erzählte: „Da muss ich sofort reservieren, das ist bestimmt schnell ausgebucht.“Dem war nicht so. Vielmehr blieb sie neben TiV-Crew und Presse am Samstag die einzige Besucherin.
Wer nicht kam, hatte etwas verpasst. „In einem Theater hat sich bisher nie jemand ansteckt, das Risiko ist viel geringer als in einem Supermarkt“, bekräftigte Vorstandsmitglied Robert Karge. Die Vorkehrungen,
die der TiV-Verein getroffen hatte, sind beeindruckend. So bauten die Mitglieder extra die Theke im Flur aus, damit die Besucher vorm Einlass genügend Abstand einhalten können. Nach jeder halben Stunde werden im Bühnensaal alle Fenster weit geöffnet zum Lüften.
Maximal 20 Gäste dürfen teilnehmen, sofern darunter mehrere aus ein und demselben Haushalt stammen. Sonst sogar nur rund ein Dutzend, wie Karge erklärt. Mit der Saarbrücker Schauspielerin Christine Münster-Domke gab es am Samstag also einen wahrhaft exklusiven Abend, der mehr war, als er versprochen hatte. Über Münster-Domkes zwei Kostproben aus dem Buch
„Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“von Christine Brückner sagte wiederum Frau N. und brachte es auf den Punkt: „Das war ja keine Lesung, das war ja schon richtiges Schauspiel.“
Münster-Domke, die ihre Heimatstadt vor rund rund 20 Jahren zum Schauspielstudium verlassen hatte und vor einiger Zeit zurückgekehrt ist, stellte aus diesem Buchklassiker aus den 80er-Jahren den (fiktiven) Monolog der Gudrun Ensslin „Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle“und die „Rede der pestkranken Laura an den entflohenen Petrarca“vor. Zwei Reden, zwei Figuren also, die, obgleich beide im Angesicht ihres Todes sprechend, gegensätzlicher nicht sein könnten.
Hier die wutgeladene RAF-Terroristin, die alle gesellschaftlichen Normen abgeworfen hatte, da die schöne französische Adelige des 14. Jahrhunderts, die tadellos alle Rollen-Erwartungen an sie als brave Frau und Mutter erfüllt hatte und nun – immer noch sanft – sich gegen den Missbrauch als reine Projektionsfläche des narzisstischen Dichters Petrarca zur Wehr setzte.
Münster-Domke zieht, an einem Tischchen sitzend, alle Register der Schauspielkunst, braucht weder Schminke noch Accessoires, um sich bis hin zur Physiognomie zu verwandeln. Als Ensslin in Isolationshaft schwillt ihr vor Wut der Hals, treten die Augen hervor, schreit sie donnernd, um gleich darauf ängstlich zerbrechlich in frühesten Kindheitserinnerungen aus dem strengen Pfarrhaushalt zu delirieren.
Laura wiederum verleiht die Schauspielerin, sicher ganz im Sinne der Autorin Brückner, mit mindestens zwanzig Ausdrucksnuancen von Sanftheit jene starke Persönlichkeit und literarisch-sprachliche Gewandtheit, die „man“ihr nie zugebilligt hatte. Münster-Domke brachte die Texte ihrer Namensvetterin Brückner so zum Glänzen, dass man gern „Mehr davon!“gerufen hätte. Also: vielleicht ja schon bald wieder in diesem Theater, noch hat es geöffnet.