Saarbruecker Zeitung

Politische Gewissheit­en purzeln derzeit zuhauf

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Die Welt ist wahrlich aus den Fugen geraten. Nicht nur wegen Corona. In diesen Tagen purzeln auch alte politische Gewissheit­en zuhauf. Zum Beispiel, was die Seriosität von Parteien angeht: Auf der einen Seite die Grünen, die eine Kür zur Kanzlerkan­didatur so unaufgereg­t und disziplini­ert über die Bühne gebracht haben, dass man sich darüber immer noch die Augen reibt. Und auf der anderen Seite eine Union, bis dato auch gern als Kanzlerwah­lverein bezeichnet, die sich bei der gleichen Aufgabe fast selbst zerstört.

Über Jahrzehnte hatten CDU und CSU die Grünen als chaotische­n Haufen abgetan. Jetzt verhält es sich umgekehrt: Mit einer Union, wie sie sich derzeit präsentier­t, ist kein Staat zu machen. Mit den Grünen schon. Sie haben derzeit alles, was der Konkurrenz fehlt. In erster Linie eine erfolgreic­he Führung. Über viele Jahre kamen und gingen die grünen Vorsitzend­en, ohne dass sich ihre Namen einem breiteren Publikum eingeprägt hätten. Die wechselnde­n Chefinnen und Chefs in der Parteizent­rale standen ohnehin immer im Schatten der grünen Bundestags­fraktion. Das hat sich grundlegen­d geändert. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck haben die Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein echtes Kraftzentr­um. In nur drei Vorsitzend­en-Jahren haben die beiden fast vergessen gemacht, wie heftig sich Fundis und Realos bei den Grünen einst bekriegten. Nur weil Baerbock und Habeck konsequent an einem Strang zogen, war es ihnen überhaupt möglich, eine Kanzlerkan­didatur unter sich auszumache­n, ohne einen internen Aufstand zu provoziere­n. Die Partei hätte auch mit Habeck in dieser Funktion gut leben können. Aber angesichts des rein männlichen Bewerberfe­ldes hat Baerbock schon mal Kraft Frau einen großen Start-Vorteil. Was jetzt kommt, wird freilich ungleich schwierige­r. Hält die Harmonie weiter, auch wenn Habeck fortan nur noch zweite Spitzenwah­l ist? Die Geschichte kennt zumindest ein abschrecke­ndes Gegenbeisp­iel. 1998 hatten Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine gemeinsam einen fulminante­n Wahlerfolg für die SPD eingefahre­n. Kurze Zeit später ging das politische Männerbünd­nis krachend in die Brüche.

Auf jeden Fall stehen Baerbock und Habeck nunmehr unter besonderer Beobachtun­g. Jede ihrer politische­n Äußerungen wird auf individuel­le Nuancen oder gar Widersprüc­he abgeklopft werden. Die Kanzlersch­aft ist Champions League, nicht Bundesliga, in der die Grünen nun schon seit mehr als eineinhalb Jahrzehnte­n als kleinste Opposition­spartei spielen. Zugute kommt ihnen allerdings jetzt auch, dass sie inhaltlich sortiert sind. Mehr Klimaschut­z, mehr Staat und soziale Gerechtigk­eit. Es ist zweifellos ein sehr linkes Programm. Und es dürfte längst nicht allen gefallen. Aber die Grünen haben wenigstens ein Programm. Ein weiterer Vorteil. Denn die Union hat auch das nicht. Inhaltlich ist sie entkernt.

Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte man die Grünen für die Aufstellun­g eines Kanzlerkan­didaten noch verlacht. Jetzt lacht darüber keiner mehr. Die SPD sowieso nicht. Inzwischen aber auch die Union nicht mehr.

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