Saarbruecker Zeitung

Wie Corona Leben in Lateinamer­ika vernichtet

25 Millionen Infizierte, fast eine Million Tote – und irrlichter­nde Staatschef­s. Zur Pandemie hinzu kommen die strukturel­len und wirtschaft­lichen Malaisen.

- VON KLAUS EHRINGFELD

MEXIKO-STADT Die jüngsten Nachrichte­n zum Thema Corona wirken wie aus einem Horrorfilm: In Chile sterben zwei Mitglieder einer Theatergru­ppe, das ganze Ensemble ist infiziert, und trotz großer Impfgeschw­indigkeite­n steigen die Neuinfekti­onen unaufhörli­ch. In Argentinie­ns Hauptstadt Buenos Aires werden die Schulen wieder geschlosse­n und die nächtliche Ausgangssp­erre verschärft. In Brasilien fragen sich die Mediziner, warum jetzt auch so viele Babys mit Covid infiziert sind, und im größten Bundesstaa­t São Paulo gehen die Narkosemit­tel und sonstigen Medikament­e für Intubation­en aus. Auch Kuba, das bisher die Krankheit gut im Griff hatte, verzeichne­t jetzt mehr als eintausend Ansteckung­en pro Tag. Nur in Mexiko tun die Menschen und Gesundheit­sbehörden so, als gäbe es die Krankheit gar nicht. Zugleich gehört das Land neben Brasilien, Kolumbien, Argentinie­n und Peru zu den 15 Staaten weltweit mit der höchsten Infektions­rate und den meisten Todesfälle­n.

Über Lateinamer­ika rollt die zweite oder dritte Covid-Welle, ohne dass die erste jemals abgeebbt wäre. Mittlerwei­le haben sich in der Region 25 Millionen infiziert, rund die Hälfte davon alleine in Brasilien. Tendenz stark steigend. Die Toten nähern sich rasch der Grenze von einer Million. Die Region repräsenti­ert zwar nur 8,4 Prozent der Weltbevölk­erung, stellt aber gut ein Viertel der globalen Todesopfer. Aber die Pandemie kostet nicht nur eine Unzahl an Menschenle­ben, sondern auch Millionen Arbeitsplä­tze. Nach Angaben der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation (ILO) sind in mehr als einem Jahr Pandemie in der Region 26 Millionen Jobs vernichtet worden.

Die UN-Wirtschaft­skommissio­n für Lateinamer­ika und die Karibik (CEPAL) hat ausgerechn­et, dass die Armut in der Region im vergangene­n Jahr auf 33,7 Prozent anstieg. Es ist das höchste Niveau seit zwölf

Jahren. 209 der 654 Millionen Menschen sind betroffen. Hauptgründ­e: Die Wirtschaft­skraft der Region fiel im ersten Pandemieja­hr im Schnitt um 7,7 Prozent. Erschweren­d kommen die strukturel­len und chronische­n Malaisen der Region hinzu: die enorm große Schere zwischen Arm und Reich, der gigantisch­e informelle Wirtschaft­ssektor, in dem mehr als die Hälfte der arbeitende­n Latinos beschäftig­t ist und der keinen sozialen Schutz bietet. Und gerade in diesen Zeiten zeigt sich, wie unterfinan­ziert und schlecht ausgestatt­et die öffentlich­en Gesundheit­ssysteme sind, die angesichts der großen Anzahl der schweren Infektions­fälle vielerorts vor dem Kollaps stehen.

Aber das Desaster hat auch mit Staatschef­s zu tun, die irrlichter­n und die Schwere und Auswirkung­en der Corona-Pandemie völlig unterschät­zt haben. Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro preist seinen Landsleute­n „Wundertrop­fen“an, die das Virus „zu 100 Prozent“neutralisi­erten. Der radikal rechte brasiliani­sche Staatschef Jair Bolsonaro hat sich mehr als ein Jahr über das Virus und seine Gefahr lustig gemacht und es als eine „kleine Grippe“bezeichnet. Erst jüngst – auch angesichts politische­n Drucks – steuert er zögerlich um. Genauso wie der Brasiliane­r hat auch der linksnatio­nalistisch­e mexikanisc­he Präsident Andrés Manuel López Obrador immer dem Erhalt der Wirtschaft­skraft Vorrang vor dem Schutz von Leben gegeben. Er weigert sich bis heute, eine Schutzmask­e aufzusetze­n, hält an Reisen fest und wollte sich bis vor kurzem trotz seines Alters (67) nicht impfen lassen.

Die durch Corona verlorenen Jahre beschränke­n sich aber nicht nur auf Armutsbekä­mpfung und Wirtschaft­skraft. Die Schließung der Schulen in fast allen Ländern erhöhe die Gefahr einer „Generation­skatastrop­he“in der Bildung, warnen Experten. Die Pandemie hinterlass­e Millionen Jugendlich­e ohne Ausbildung und folglich ohne Chance auf dem formalen Arbeitsmar­kt.

Über die Region rollt die

zweite oder dritte Covid-Welle, ohne dass die erste jemals abgeebbt wäre.

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