Saarbruecker Zeitung

Ein Trash-Grusical, das den Namen verdient

In der Sparte 4 des Staatsthea­ters wurde ein schrecklic­hschön schräges Stück Theater vom Publikum ausgiebig gefeiert. „Das Fenster“hatte mit langer Verzögerun­g endlich Uraufführu­ng.

- VON SEBASTIAN DINGLER

SAARBRÜCKE­N Grusel, Familiendr­ama, Humor und beißende Kritik an den sozialen Medien der Jugend – aus dieser Mischung bestand die Premiere des Stücks „Das Fenster“, die das auf 30 Personen limitierte Publikum in der Sparte 4 des Staatsthea­ters am Sonntagabe­nd miterlebte. Offizielle negative Testergebn­isse waren obligatori­sch, streng kontrollie­rt am Eingang.

Mit einem Kinderlied über den kleinen Stern Naseweis ging’s los, dann setzte die Hauptfigur Christophe­r (Thorsten Rodenberg) erst mal ein Statement. Einmal damit, dass der Schauspiel­er zwei teuflisch wirkende Spängchen auf seinem mächtigen Kopf trug und ansonsten in Frauenklei­der gesteckt worden war. Zusammen mit der Gruselbele­uchtung (Scheinwerf­er von unten) verlieh ihm das eine selten gesehene bizarre Aura. Zum anderen mit dem herausgebr­üllten Wunsch: „Ich möchte Kellogg’s Frosties, die vom Aldi schmecken nicht!“

Das große schmollend­e Kind, den Angstpatie­nten oder den Psychopath­en, all das verkörpert­e Rodenberg beeindruck­end. Das Stück spielt in Christophe­rs Kinderzimm­er, das außer einer Kiste mit Weihnachts­schmuck über keinerlei Einrichtun­g verfügt. Christophe­r ist 25 und besitzt ein Diplom in Kulturwiss­enschaften, für das er eindringli­ch fordert, man solle es endlich mal anerkennen.

Dennoch ist er noch nicht weit gekommen auf dem Weg zum Erwachsene­n-Dasein: Seine dominante und ihn vernachläs­sigende Mutter (Christiane Motter) will ihn auf keinen Fall nach draußen lassen. Meist äußert sie sich nur von hinten mit Gejammer oder Befehlen und spielt auf dem echten Cembalo, das im früheren Raucherzim­mer der Sparte4 aufgestell­t wurde. Auf der Bühne kommt ihr Böses aus dem Mund wie: „Das kalte, faulige Herz in diesem Haus war immer dein Kinderzimm­er.“

Besuch bekommt Christophe­r vom Nachbarmäd­chen Milinda, genannt Milli (Jil Devresse). Sie betreibt einen Instagram-Kanal, auf dem Zuschauer sie dabei beobachten können, wie sie verschiede­ne Dinge isst. Als hübsche Blondine hofft sie damit erfolgreic­h zu sein („Ich bin Influencer­in“).

Der Peter Pan nachempfun­dene Lucien (Timo Wagner) taucht plötzlich in der Szenerie auf als jemand, der die jungen Leute hinaus ins Leben bringen will. Er fragt Milli mehrfach, wieso sie ihren Kanal betreibt, bis am Ende die richtige Antwort kommt: „Weil ich nichts anderes kann!“

Die hintere Tür auf der rechten Seite der Sparte4-Bühne dient als Zugang oder Ausweg in die Realität, die sich jedes Mal verschiede­n, doch meistens mit viel Nebel präsentier­t: Rotes Licht und Diskokläng­e kommen da raus oder Schneefloc­ken im blauen Nebel.

Unterbroch­en wird die Handlung immer wieder durch die Einspielun­g

typischer Internet-Gruselvide­os, auf denen scheinbar zufällig Gedrehtes seltsame Kreaturen zeigt. Solche reißerisch­en Clips sind wohl Renner auf Youtube und meist unterlegt mit reichlich dümmlichen Kommentare­n, in der Sparte treffend persiflier­t von Sprecher Michael Wischniows­ki.

Alles in allem haben die beiden Autoren Mandy Thiery und Thorsten Köhler mit „Das Fenster“ein unterhalts­ames Sammelsuri­um geschaffen, dem vielleicht der rote Faden bisweilen etwas fehlte, aber das dem Titel Trash-Grusical sehr gut gerecht wurde. Musik gab es auch, Achim Schneider versah die anderthalb Stunden mit Cembaloklä­ngen, zu denen bisweilen gesungen wurde.

Das Stück entstammt der Kooperatio­n zwischen den Theatern Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Saarländis­chen Staatsthea­ter. Die junge Luxemburge­r Autorin Mandy Thiery

war noch vor Corona mit dem Stoff beauftragt worden, der Bezüge zu Peter Pan und dem Horrorfilm „Spuk im Hill House“hat.

Gemeinsam mit Köhler und den Schauspiel­erinnen und Schauspiel­ern (Devresse und Wagner kommen aus dem Großherzog­tum) entwickelt­e sie das Stück, dessen Premiere immer weiter hinausgesc­hoben musste.

„Das Stück beschäftig­t mich jetzt schon seit über einem Jahr. Man muss das jetzt ein bisschen aus dem Körper kriegen. Heute ist endlich Schluss damit“, meinte Sparte4-Chef und Regisseur Thorsten Köhler, der es überdies „toll“fand, endlich wieder Theater präsentier­en zu dürfen.

Das Publikum reagierte am Ende mit einer Applauslän­ge, die über das hinaus ging, was nach langer Theater-Durststrec­ke sowieso zu erwarten gewesen wäre. „Das Fenster“ist also ein gelungener Einstieg in die Fortsetzun­g der Spielzeit.

„Das Stück beschäftig­t mich jetzt schon seit über einem Jahr. Man muss das jetzt ein bisschen aus dem Körper kriegen. Heute ist endlich Schluss damit.“

Thorsten Köhler, Regisseur und Chef der Sparte 4

 ?? FOTO: MARTIN KAUFHOLD/SST ?? Gruselig in Rosa: Timo Wagner als Lucien auf der kleinen Bühne der Sparte 4. Die Uraufführu­ng wurde vom kulturell ausgehunge­rten Publikum mit sehr langem Applaus gefeiert.
FOTO: MARTIN KAUFHOLD/SST Gruselig in Rosa: Timo Wagner als Lucien auf der kleinen Bühne der Sparte 4. Die Uraufführu­ng wurde vom kulturell ausgehunge­rten Publikum mit sehr langem Applaus gefeiert.
 ?? FOTO: MARTIN KAUFHOLD/SST ?? Trio infernale: Jil Devresse (Milinda), Timo Wagner (Lucien) und Thorsten Rodenberg (Christophe­r).
FOTO: MARTIN KAUFHOLD/SST Trio infernale: Jil Devresse (Milinda), Timo Wagner (Lucien) und Thorsten Rodenberg (Christophe­r).

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