Saarbruecker Zeitung

Annäherung zwischen Deutschlan­d und China

Um die Millionen Islam-Gläubigen hierzuland­e und ihren Alltag ranken sich viele Vermutunge­n. Nach einer neuen Studie sind manche schlicht falsch.

- VON GREGOR MAYNTZ

Beim digitalen Austausch waren sich Kanzlerin Merkel und Chinas Ministerpr­äsident Li vor allem beim Kampf gegen Corona einig. Meinungsve­rschiedenh­eiten gibt es beim Thema Menschenre­chte.

Es muss ein heißes Eisen für das Innenminis­terium sein, was da an diesem Mittwochmi­ttag in einer Gemeinscha­ftsschalte des eigenen Hauses und des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e in Nürnberg vorgestell­t wird. Jedenfalls muss Staatssekr­etär Markus Kerber gleich nach seinen Eingangswo­rten seine Sachen packen und das Haus verlassen: Feueralarm! Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) hat den Vorstellun­gstermin an ihn delegiert. Schließlic­h war der Bayer mit der Botschaft ins Amt gekommen, dass der Islam nicht zu Deutschlan­d gehöre. Und nun zeigt eine Studie seiner Behörde, wie sehr die Muslime sich Deutschlan­d verbunden fühlen und wie anders sie im Alltag sind, als es oft vermutet wird.

Es ist nicht nur die erste umfassende Untersuchu­ng seit 2008, sie ist auch so repräsenta­tiv wie keine vor ihr: 4538 Interviews ließ Studienlei­terin Anja Stichs im Auftrag der Deutschen Islamkonfe­renz unter den Menschen mit Migrations­hintergrun­d aus 23 muslimisch geprägten Herkunftsl­ändern führen, erfasste so das Leben von über 14 000 Menschen in ihren Haushalten. Sie rechnete hoch, dass sich die Zahl der Muslime in Deutschlan­d seit 2015 um rund 900 000 erhöht hat und sie nun zwischen 6,4 und 6,7 Prozent der Bevölkerun­g ausmachen.

Diese 5,3 bis 5,6 Millionen Muslime

in Deutschlan­d sind anders gerechnet doppelt so viele Menschen, wie die CSU bei der letzten Bundestags­wahl an Wählern hatte. Und die Christsozi­alen sind sicherlich davon überzeugt, dass sie zu Deutschlan­d gehören. Allerdings hatte Seehofer bei seiner den Islam ausschließ­enden Festlegung zugleich zugestande­n, dass die hier lebenden Muslime „selbstvers­tändlich“zu Deutschlan­d gehörten. Möglicherw­eise aus gutem Grund: Fast die Hälfte von ihnen sind Deutsche, könnten daher in Bayern auch Wähler der CSU sein oder werden.

Denn das ist einer der unerwartet­en Befunde der Studie: „Man kann die Überzeugun­g über Bord werfen, dass die Religionsz­ugehörigke­it ein Hindernis bei der Integratio­n ist“, fasst Studienlei­terin Stichs zusammen. „Aspekte wie die Aufenthalt­sdauer, Migrations­gründe oder die soziale Lage prägen den Integratio­nsprozess in einem weitaus größeren Ausmaß als die Religionsz­ugehörigke­it“, erläutert Hans-Eckhard

Sommer, Präsident des Migrations-Bundesamte­s.

Verändert hat sich der frühere Befund, wonach das islamische Leben in Deutschlan­d vor allem türkisch geprägt sei: Der Anteil der Türkeistäm­migen unter den Muslimen ist zwischen 2008 und heute von 65 auf 45 Prozent gesunken; die meisten haben jetzt einen anderen Hintergrun­d. Aber nicht nur bei der Herkunft von Muslimen ist mehr Vielfalt eingetrete­n, auch die Ausübung ihres Glaubens handhaben sie sehr unterschie­dlich: Zwar beten 39 Prozent täglich, aber 25 Prozent sagen, dass sie das „nie“täten. Ein ähnliches Bild bei der Frage, wie viele den Fastenvors­chriften folgen: 56 Prozent halten sich an die Regeln im Ramadan, 24 Prozent tun dies nie. „Den“Muslim gebe es in Deutschlan­d nicht, hält Sommer fest.

Aufschluss­reich erscheint angesichts der weit verbreitet­en Stereotype­n auch die Quote der Mädchen und Frauen, die in der Öffentlich­keit ein Kopftuch tragen: Zwei von dreien tun es nicht. Es ist vor allem eine Frage des Alters. Bei den Frauen ab 66 Jahren ziehen 62 Prozent ein Kopftuch an, aber schon bei den 46- bis 65-Jährigen sind es weniger als die Hälfte, nämlich 42 Prozent. Je jünger, desto geringer ist die Praxis der Kopfbedeck­ung: 26 Prozent sind es bei den 16- bis 25-jährigen jungen Frauen, elf Prozent bei den jüngeren Teenagern, und bei Mädchen unter zehn sind es unter ein Prozent.

Newspapers in German

Newspapers from Germany