Vitamine: Zwischen Mangel und Vergiftung
Die Dosis macht das Gift: Ein Vitaminmangel schadet der Gesundheit, aber auch eine zu hohe Dosierung. Was die Wissenschaft schon weiß.
ein Experte für Energiestoffwechsel an der ETH Zürich. Dadurch verschwinden zum Beispiel die positiven Trainingseffekte von Sport.
„Manche Vitamine wie Folsäure und B12 können je nach Dosis bewirken, dass Gene ein- oder abgeschaltet werden“, erklärt der Gen- und Darmforscher Professor Dr. Tim Spector von der Universität London. Dadurch könnte zum Beispiel die Bildung neuer, frischer Zellen gestört werden.
Es liegt also in unserem Interesse, unsere Vitaminwerte normal zu halten. „Eine ausgewogene Ernährung einschließlich frischer Gemüse und Früchte sowie das gelegentliche Stück Fleisch sollten bei 99 Prozent der Menschen gute Werte gewährleisten“, sagt Spector, „doch die meisten Leute sind davon offenbar nicht überzeugt.“Wie sonst könnte der hohe Absatz von Vitaminpräparaten und mit Vitaminen angereicherten Lebensmitteln erklärt werden.
Ob wir tatsächlich gesünder werden, wenn wir zusätzlich Vitamine und Spurenelemente über Nahrungsergänzungsmittel aufnehmen, wird seit etwa 20 Jahren wissenschaftlich untersucht. Unter anderem wurden die Vitamine A und E sowie das Spurenelement Selen unter die Lupe genommen, denen eine zellschützende, antioxidative Wirkung zugeschrieben wird.
Im Bezug auf Herzerkrankungen wurde keinerlei Nutzen festgestellt, im Gegenteil, bei hoher Dosierung steigt das Risiko für Krebs und Herzversagen deutlich. Forscher der Universität von Texas in Houston, die Männern mit Vitaminmangel zusätzliches Selen und Vitamin E verabreicht hatten, kamen zu dem Ergebnis: „Selen oder Vitamin E allein oder in Kombination verhinderten Prostatakrebs bei dieser Gruppe relativ gesunder Männer nicht.“
An der Harvard-Universität in Boston wurde untersucht, ob Multivitaminpräparate die geistige Leistungsfähigkeit steigern. Über ein Jahrzehnt betreuten die Forscher 5947 Ärzte ab 65 Jahren. Eine Gruppe erhielt jeden Tag zusätzliche Vitamine, die andere hingegen nur ein Placebo ohne Wirkstoffe. Keiner der Teilnehmer wusste, was er täglich schluckte. Am Ende stellte sich heraus, dass die zusätzliche Vitamindosis die geistige Gesamtleistung nicht verbessert hatte. Die Placebo-Gruppe war in Kopf genauso fit.
Zu beiden Studien wandten Kritiker ein, die Teilnehmer hätten sich ohnehin gut ernährt. Es habe also gar kein Vitaminmangel vorgelegen. Daher seien die Studien irreführend. Daraufhin untersuchten amerikanische und britische Forscher gemeinsam erneut den Nutzen von Multivitaminpräparaten. In einer Metaanalyse wurden die Ergebnisse von 29 entsprechenden Studien bewertet, an denen insgesamt fast eine halbe Million Menschen teilgenommen hatten. Das Ergebnis: „Die Nahrungsergänzungsmittel bringen keinerlei Nutzen.“Andere Antioxidantien wie Folsäure und B-Vitamine und auch Mineralstoffe, die zusätzlich eingenommen werden, könnten die Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit nicht verringern, die auf chronische Erkrankungen zurückzuführen seien.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die meisten Nahrungsergänzungsmittel chronische Krankheiten oder einen früheren Tod nicht verhindern können, sie zu verwenden, ist nicht gerechtfertigt, sie sollten eher vermieden werden. Denn die Experten waren noch auf einen anderen Zusammenhang gestoßen: Vitamin A oder Vitamin E in hohen Dosen sind definitiv schädlich. Unter anderem drohen Organschäden.
Die in Atlanta ansässige Nationale Gesundheitsbehörde der USA hat die Schäden aufgelistet, die durch ein Nahrungsergänzungsmittel mit einer hohen Dosis von Selen aufgetreten sind: Durchfall, Müdigkeit, Haarausfall, Gelenkschmerzen sowie spröde, verfärbte und schließlich ausgefallene Nägel.
Fischölkapseln mit Omega-3-Fettsäuren werden oft als Allheilmittel gegen die heutigen Mängel in der Ernährung und der Lebensweise vermarktet. Auch als Mittel gegen Arthritis soll Omega-3 Wunder wirken. In Studien konnte jedoch nicht bewiesen werden, dass eine zusätzliche Zufuhr einen messbaren Nutzen hat.
An einer großen italienischen Studie nahmen 12 513 Herzpatienten mit hohem Risiko teil. Jeweils die Hälfte der Teilnehmer bekam über einen Zeitraum von fünf Jahren Omega-3 oder ein Placebo. Es stellte sich heraus, dass Omega-3-Präparate das Risiko für künftige Herzerkrankungen nicht verringern.
Einer Zusammenfassung der Universität London ist zu entnehmen, dass Fischöl weder einer Makuladegeneration noch Alzheimer noch Prostatakrebs vorbeugen kann. Omega-3 kann auch nicht dazu beitragen, die kognitiven Leistungen, den Intelligenzquotienten oder
Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern zu verbessern.
In vielen Ländern ist Vitamin C das am häufigsten geschluckte Vitamin. Viele Menschen wollen damit ihr Immunsystem ankurbeln und das Erkältungsrisiko verringern. „Vitamin C kann aber weder Erkältungen noch Krebs noch irgendeine andere Krankheit verhindern“, sagt Tim Spector. „Allenfalls kann Vitamin C wie auch Zinkpräparate Erkältungssymptome um einen halben Tag verkürzen, wenn man sie früh genug einnimmt. Doch eine Orange oder Brokkoli dürften den gleichen Effekt haben.“
Als Nahrungsergänzungsmittel wird auch Folsäure (Vitamin B9) angeboten. Normalerweise nehmen wir genug Folsäure auf, wenn wir regelmäßig grünes Gemüse, Salat und Obst essen. Dutzende Studien haben gezeigt, dass ein zusätzlicher Konsum von Folsäure weder vor Herzerkrankungen noch vor Krebs schützen kann.
Forscher der Medizinischen Universität in Guangzhou, China, haben alle verfügbaren Studien ausgewertet. Die ergänzende Zufuhr von Folsäure hat keinen Einfluss auf Krebs insgesamt (13 Studien), auf Darmkrebs (sieben Studien), Magen-Darm-Krebs (zwei Studien), Prostatakrebs (fünf Studien), Geschlechtsapparat (zwei Studien), Lungenkrebs (fünf Studien), Brustkrebs (vier Studien), Leukämie (drei Studien) und Sterblichkeit durch eine Krebserkrankung (sechs Studien). Lediglich vor schwarzem Hautkrebs (drei Studien) scheint Folsäure einen gewissen Schutz zu bieten.
Einzig schwangeren Frauen und Frauen, die schwanger werden wollen, wird empfohlen, zusätzlich Folsäure einzunehmen. Dadurch kann beim Fötus ein offener Rücken (Spina bifida) verhindert werden. Entscheidend dafür ist die 27. Schwangerschaftswoche. Frauen, die auch danach noch hohe Dosen von Folsäure einnehmen, schaden ihrer Gesundheit und der des Babys.
Wissenschaftler der Universität von Southampton in England haben herausgefunden, dass Folsäure einige schützende Gene bei Mutter und Kind abschalten kann. Hohe Dosierungen steigern bei der Mutter das Risiko für Brustkrebs und beim Kind für Allergien, Asthma und – was Tierversuche nahelegen – für eine Insulinresistenz und neuronale Veränderungen im Gehirn.
Offenbar spielt es eine große Rolle, ob man Folsäure über natürliche Nahrungsmittel oder als Nahrungsergänzungsmittel aufnimmt. In einer Studie gelang Forschern der Oregon State University, USA, der Nachweis, dass nach dem Verzehr von Brokkoli viermal so viele gesunde Polyphenole (Pflanzenstoffe) im Blut waren als nach dem Schlucken von Tabletten mit Brokkoliextrakt in der gleichen Dosis.