Angst vor Abspaltung Schottlands geht um
An diesem Donnerstag wählen die Schotten ein neues Regionalparlament. Der Urnengang könnte zur Schicksalswahl werden – nicht nur für das Vereinigte Königreich.
Der Freiheitskampf beginnt vor einem Wettbüro gleich neben einem Kebab-Laden. Angus Robertson trägt Jeans und weiße Sneaker, über die Daunenjacke hat sich der 51-Jährige eine neongelbe Weste gestreift. „Stronger for Scotland“, stärker für Schottland, steht auf der Brust geschrieben. Robertson leuchtet an diesem Mittwochabend regelrecht im grauen Nieselregen von Edinburgh. Schnellen Schrittes geht er durch die Straßen, klingelt sich in verwechselbare Häuserblocks
und schiebt auf jeder Etage Flugblätter durch die Briefschlitze. „Bitte geht wählen“, ruft er den wenigen Passanten zu, denen er begegnet, und streckt die Daumen nach oben.
Der Politiker versprüht Optimismus, und möchte man den Umfragen glauben, hat der Kandidat der Schottischen Nationalpartei SNP im wichtigen Wahlbezirk Edinburgh Central dazu allen Grund. An diesem Donnerstag wählen 5,5 Millionen Schotten ein neues Regionalparlament, doch es wäre vermessen, diesen Urnengang als lokale Angelegenheit abzutun. Es könnte vielmehr eine Schicksalswahl werden – für das Vereinigte Königreich, für den britischen Premierminister Boris Johnson, für die EU, aber vor allem für Schottland.
Denn die SNP will nichts wie raus aus der Union mit England, die in ihrer 314-jährigen Geschichte zwar nie ganz einfach war, aber als erfolgreich bezeichnet werden darf. Nun bröckelt die Vereinigung wie vielleicht nie zuvor. „Scexit“nennen die Abspaltungsbefürworter den Traum von der Unabhängigkeit, der nach dem verlorenen Referendum 2014 kurz ausgeträumt schien und dann durch die europaskeptischen Konservativen in Westminster und das Brexit-Votum wieder beflügelt wurde. Bei der Abstimmung um Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU 2016 sprachen sich knapp zwei Drittel der Menschen in Schottland für den Verbleib aus. Besiegt und gelenkt von England, wieder einmal.
„Wir wurden gegen unseren Willen aus der EU gezerrt“, sagt Robertson. Es ist der Schlachtruf der Nationalisten, angeführt von der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon. Die SNP will den Brexit umkehren. Zurück in die Zukunft, wenn man so will. Derweil stilisiert sich Sturgeon als so etwas wie der Anti-Boris. So konnte sie während der Pandemie geschickt übertünchen, dass das Krisenmanagement im Ergebnis kaum besser ausfiel als in England. Während Johnson mit hochtrabenden, unrealistischen Versprechen und Kehrtwenden verwirrte, präsentierte sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Der Premier ist, das kann man nicht anders sagen, ein Geschenk für die Unabhängigkeitsfans.
Diese Wahl sei „die wichtigste in Schottlands Geschichte“, verkündete Sturgeon und schürte hohe Erwartungen. Pokerte sie unter Umständen zu hoch? Dass die seit 14 Jahren regierende SNP erneut stärkste Kraft wird, steht außer Zweifel. Hinzu kommt, dass auch die Grünen zum abspaltungswilligen Lager gehören. Die Frage ist nur: Wie groß wird die Mehrheit für die Nationalisten sein? Ohne absolute Mehrheit dürfte es der SNP schwerfallen, den Ausgang als Erfolg zu verkaufen.
Dabei plant die Erste Ministerin, mit einem eindeutigen Mandat der Wähler im Rücken ein erneutes Referendum zu fordern. Ihr größtes Problem sitzt jedoch in der Downing Street. Regierungschef Johnson muss einer Volksbefragung zustimmen, was der Konservative vehement ablehnt. Noch. Der Druck könnte zu groß werden. „Falls London den Menschen in Schottland sagt, sie könnten keine demokratische Wahl über die Zukunft ihres eigenen Landes haben, dann verlagert sich die Angelegenheit und es ist nicht mehr länger eine Frage der Unabhängigkeit, sondern der Demokratie“, sagt der Sturgeon-Vertraute Angus Robertson.
Wie die Staatengemeinschaft auf die Hoffnungen der Schotten reagieren wird, steht derweil noch aus. Doch Robertson nennt es das „beste Gegenmittel“für die geschundene Seele der EU-Freunde. In Westminster dagegen herrscht Panik. Plötzlich loben die europaskeptischen Konservativen die Vorteile einer Union und malen Horrorszenarien für den Fall einer Abspaltung. Die Ironie dürfte selbst ihnen kaum entgehen. Trotzdem, die wirtschaftlichen Herausforderungen eines autonomen Schottlands sind immens. Würde es eine Handelsgrenze zwischen dem nördlichen Landesteil und England geben? Welche Währung würden die Schotten nutzen? Der Brexit klingt wie ein Kindergeburtstagsübung angesichts der Aussicht, die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Schottland und dem Rest des Königreichs auflösen zu müssen.
Vor dem Schloss in Edinburgh steht ein Händler mit Magneten, auf denen die schottische Flagge mit dem weißen Andreaskreuz prangt. Der Patriotismus der schottischen Rebellen mag in königsblau gehüllt sein, doch er berührt mehr als Dudelsackklänge, Tartans und Whisky aus den Highlands. Es geht um Emotionen. Um Herzblut. Ein bisschen Braveheart, ein bisschen Anti-England, vor allem aber soll ein nationaler Aufbruch stattfinden.
Zwischenzeitlich lagen die Befürworter einer Loslösung in Umfragen sogar vorn, auch wenn diese zuletzt eine leichte Mehrheit für die Anhänger der Union zeigten. Experten schieben die Entwicklung auch auf den Brexit, der nicht so schlimm wie befürchtet ausgefallen ist. Außerdem sind die Menschen zurzeit vor allem mit der Coronakrise beschäftigt, sodass der Appetit auf ein Referendum in vielen Ecken gering ausfällt.
Wer dieser Tage durch Schottland reist, trifft auf Verunsicherung. In der Mitte der Gesellschaft, abseits der beiden Lager – auf der einen Seite die unbeirrbaren Unabhängigkeits-Fanatiker, auf der anderen die absoluten Gegner – versuchen die Menschen, die schwierige Rechnung anzustellen nach all den traumatischen Corona-Monaten, die da lautet: Ist es riskanter, im Königreich zu verbleiben – oder am Donnerstag die Nationalisten zu wählen, um dann möglicherweise nach einem Unabhängigkeitsreferendum in einem eigenständigen Schottland zu leben? Der Journalist David Leask weiß nicht, wie es ausgehen wird. „Es gibt zu viele Unbekannte.“Eines aber weiß er: „Dies ist nicht eine Art nationalistische, populistische Bewegung à la Brexit oder Trump.“
„Wir wurden gegen unseren Willen aus der
EU gezerrt.“
Angus Robertson Kandidat der Schottischen
Nationalpartei SNP