Erleichterungen brauchen mehr Augenmaß
Kurz vor dem Muttertag erlaubt Mecklenburg-Vorpommern wieder den Tagestourismus. Doch halt: Bevor Familien das Wochenende nutzen, um sich an den Seen oder auf den Stränden die saubere Luft um die Nase wehen zu lassen, kommt die Einschränkung: nur für vollständig Geimpfte. Die meisten Eltern müssen also zu Hause bleiben. Und selbst wo sie schon geimpft sind, dürfen sie ihre Kinder nicht mitnehmen, denn die hatten noch keine Impfchance. Familienspaltung ausgerechnet im Land der ehemaligen Familienministerin Manuela Schwesig! Ein Blick ins Kleingedruckte ernüchtert noch mehr. Ja: Großeltern dürfen ihre Enkel an der Ostsee besuchen. Aber nicht Enkel ihre Großeltern. Und ja: Zu wichtigen Anlässen dürfen auch Familien zusammenkommen. Aber nur in großen Villen geht das auch ohne Probleme. Denn bei kleineren Behausungen dürfen die Besucher auch nicht in nahegelegenen Hotels, Pensionen oder Ferienhäusern unterkommen.
Einen Tag nach dem Kabinettsbeschluss hat der Bundestag den Weg für weitere Erleichterungen freigemacht. An diesem Freitag folgt der Bundesrat. Das Tempo ist zu loben. Doch der Inhalt ist noch viel zu sehr obrigkeitsstaatlichem Erlaubnisdenken verhaftet. Das kommt schon darin zum Ausdruck, dass Öffnungsoptionen sonst schon in die Notbremsen-Regeln vor zwei Wochen eingebaut worden wären. Es zeigt sich aber vor allem an der Salamitaktik bei den Öffnungen. Geimpfte und Genesene sollen sich nun wieder zu Hause ohne Auflagen treffen dürfen – aber draußen zusammen Sport zu treiben, bleibt ihnen verboten.
Zu wenig hält sich der Gesetzgeber vor Augen, dass es nicht um die Frage geht, welche Sonderrechte
für Minderheiten ermöglicht werden, sondern darum, welche Grundrechtseinschränkungen er für wen aufrechterhalten darf. Jede einzelne Beschränkung muss jederzeit geeignet, erforderlich und angemessen sein, um ein zwingendes Ziel zu erreichen. Solange es Deutschland mit einem diffusen und rapide wachsenden Infektionsgeschehen zu tun hatte, ließen sich pauschale Kontaktbeschränkungen noch damit begründen, dass diese zusammen einen drohenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems und eine Vielzahl tödlicher Krankheitsverläufe verhindern könnten.
Doch inzwischen gibt es eine andere Situation. Über zehn Millionen Menschen sind genesen oder vollständig geimpft. Das sind mehr, als 19 von 27 EU-Mitgliedsstaaten an Einwohnern haben. Es lässt sich leicht vorstellen, dass es in jedem dieser 19 Länder keine einzige Einschränkung mehr gäbe, wenn dort keine einzige Person mehr nennenswert ansteckend wäre. Und so sind auch die Einschränkungen für die zehn Millionen zu sehen, aus denen im Übrigen nicht irgendwann, sondern schon binnen Tagen elf, zwölf und dreizehn Millionen geworden sein werden.
Gefragt sind also Lockerungen mit mehr Augenmaß. Orientierung muss sein, dass Einschränkungen die Ausnahme und nicht die Regel sind. Auch Schwesig sollte ihre Regelungen noch einmal aus der Perspektive von Familien überdenken.