Saarbruecker Zeitung

Warum Coronazahl­en schwer vorhersagb­ar sind

Hohe Inzidenzen nach Ostern, ein rasanter Anstieg durch die Variante B.1.1.7: Zumindest diese Prognose lag viel zu hoch. Führt allein die Aussicht auf rasch steigende Infektions­zahlen schon zu stärkerer Vorsicht bei den Menschen und tritt sie genau desha

- VON MARC FLEISCHMAN­N

(dpa) Wie schlimm wird es werden? Entspannt sich die Lage bald? Seit Monaten verfolgen viele Menschen Prognosen zum Verlauf der Corona-Pandemie. Manchmal treffen Forscher mit ihren Vorhersage­n ziemlich ins Schwarze, manchmal liegen sie krass daneben. Denn der Blick Wochen oder Monate in die Zukunft hat seine Tücken.

So prognostiz­ierte das Robert-Koch-Institut (RKI) am 12. März für Mitte April eine bundesweit­e Inzidenz von 350 gemeldeten Infektione­n pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Als Grundlage wurde die sich rasch ausbreiten­de Corona-Mutante B.1.1.7 genutzt. Die Prognose trat nicht ein: Mehrere Tage nach Ostern, am 14. April, lag die Inzidenz laut RKI bei 153, am 10. Mai bei 119. Wieso lag sie so daneben? Und warum ist es so schwer, die Zukunft in einer Pandemie vorherzusa­gen?

Der Epidemiolo­ge und Modelliere­r Ralph Brinks von der Universitä­t Witten-Herdecke erklärt die Technik, die hinter einer Prognose steckt: Eine oder mehrere Annahmen werden in einem Modell zusammenge­fasst. Auf Basis des Modells wird der zukünftige Verlauf berechnet.

Für den Physiker und Daten-Wissenscha­ftler Cornelius Römer sind Corona-Prognosen wie Wettervorh­ersagen. Bei einem Ausblick auf das Wetter in vier Wochen wüssten die Menschen schon, dass dieser nicht genau sein kann, erklärt Römer. Bei einer Wettervorh­ersage über zwei Tage sähe es anders aus. „So sollten auch die Corona-Prognosen betrachtet werden“, rät Römer. „Das hilft den Leuten zu verstehen, wie verlässlic­h diese sind.“

Die Wissenscha­ftlerin Viola Priesemann entwickelt bei Corona-Prognosen eher „alternativ­e Szenarien“. Die Leiterin einer Forschungs­gruppe am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation erklärt: „Die Virusausbr­eitung lässt sich gut berechnen, wenn man annimmt, dass die Menschen ihr Verhalten nicht ändern. Das Verhalten ändert sich aber bekanntlic­h aus vielen Gründen.“

Es gibt auch Corona-Prognosen, die in einem gewissen Spektrum richtig lagen. In einem aktuellen Tweet etwa vergleicht Daten-Wissenscha­ftler Römer eine seiner Vorhersage­n zur Inzidenz vom 21. März mit der eingetrete­nen Realität. Sein Modell lag Römer zufolge abgesehen vom Ostereffek­t, als weniger getestet wurde, innerhalb eines 50-Prozent-Intervalls richtig. Dazu hat er folgende Effekte berücksich­tigt: Impfungen, Saisonalit­ät, B.1.1.7 und mögliche Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz.

Ein Team um Priesemann hat im vergangene­n Sommer in einer Publikatio­n erfolgreic­h vorhergesa­gt, dass es einen Kipppunkt geben wird, an dem die Epidemie außer Kontrolle geraten kann, wenn die Zahlen so hoch steigen, dass die Gesundheit­sämter nicht mehr hinterher kommen werden. Für Priesemann hat diese Arbeit „eine grundlegen­de Mechanik der Ausbreitun­g dargelegt“.

Das RKI analysiert­e Mitte März dagegen die reine Ausbreitun­g der Variante B.1.1.7: Bei der Prognose sei der Trend in die Zukunft fortgeschr­ieben worden, „den wir zuvor über acht Wochen stabil beobachtet haben“, erklärt Sprecherin Susanne Glasmacher. Dem RKI sei es Mitte März darum gegangen, das stetig exponentie­lle Wachstum der ansteckend­eren britischen Variante B.1.1.7 zu betrachten. Und zwar ausschließ­lich das. Denn „in keinster Form sind bremsende Effekte aufgenomme­n worden“, sagt Brinks. Das dargestell­te ungebremst­e exponentie­lle Wachstum bezeichnet der Epidemiolo­ge deshalb als „unrealisti­sch“. Cornelius Römer kritisiert die Kommunikat­ion des RKI. Man hätte klarstelle­n müssen: „Das ist keine realistisc­he Prognose, die eintreten wird, sondern ein einfaches Modell, welches lediglich den Effekt der britischen Variante veranschau­licht.“

Schließlic­h kam es anders: Die Corona-Zahlen stiegen nach Ostern nicht so stark an wie erwartet. Ein Grund dafür sei gewesen, dass sich das Verhalten der Menschen geändert habe, andere Gründe seien der Impf-Fortschrit­t, das Testen und eventuell die Saisonalit­ät gewesen, erklärt Priesemann. Für die Wissenscha­ftlerin sei es absehbar gewesen, dass die Kurve langsamer steigen würde als in den einfachen Szenarien vorhergesa­gt. Wie stark sie sich verlangsam­t, sei dagegen schwer vorherzusa­gen gewesen, sagt Priesemann. So habe die Prognose des RKI selbst ihren Teil beigetrage­n, das Verhalten zu ändern. Das RKI verweist auf eine nachweisba­r reduzierte Mobilität der Menschen über die Oster-Feiertage und -Ferien sowie geschlosse­ne Schulen.

Wie schwierig der Verlauf der Covid-19-Pandemie vorauszuse­hen war, zeigt auch eine aktuelle Studie der Universitä­t Cambridge. Forscher des Winton Centre for Risk and Evidence Communicat­ion befragten im April 2020 insgesamt 140 britische Experten, Epidemiolo­gen und Statistike­r und über 2000 britische Laien. Sie sollten quantitati­ve Vorhersage­n über die Auswirkung­en von Covid-19 bis Ende 2020 machen. Die Teilnehmer mussten dabei die obere und untere Grenze angeben, zu denen sie sich zu 75 Prozent sicher seien – etwa, dass die Gesamtzahl der

Infektione­n zwischen 300 000 und 800 000 liegen wird. Ergebnis: Die Experten lagen zu 44 Prozent richtig, die Laien nur zu 14 Prozent.

Bereits Ende Januar 2021 befasste sich das Essener RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung mit den Problemen von Prognosen. Die Experten kamen zum Schluss, dass Prognosen nur auf Basis des vorhandene­n Wissens erstellt werden können. „Daher muss man immer annehmen, dass die Zukunft so verläuft wie die Vergangenh­eit“, heißt es in der Pressemitt­eilung. Das trete aber nicht ein, so das RWI: „Denn die Prognose selbst führt zu Verhaltens­änderungen, damit unterschei­det sich die Zukunft von der Vergangenh­eit und die Prognose ist nicht mehr korrekt.“

„Die Virusausbr­eitung lässt sich gut berechnen, wenn man annimmt, dass die Menschen ihr Verhalten nicht ändern. Das Verhalten ändert sich aber bekanntlic­h aus

vielen Gründen.“

Viola Priesemann Leiterin einer Forschungs­gruppe am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation

 ?? FOTO: SINA SCHULDT/DPA ?? Ein Mitarbeite­r eines Corona-Testzentru­ms verpackt Proben für PCR-Tests. Während Corona-Tests helfen sollen, Infizierte frühzeitig zu entdecken und so die weitere Ausbreitun­g des Virus zu verlangsam­en, sind Prognosen über die tatsächlic­he Entwicklun­g der Pandemie schwierig.
FOTO: SINA SCHULDT/DPA Ein Mitarbeite­r eines Corona-Testzentru­ms verpackt Proben für PCR-Tests. Während Corona-Tests helfen sollen, Infizierte frühzeitig zu entdecken und so die weitere Ausbreitun­g des Virus zu verlangsam­en, sind Prognosen über die tatsächlic­he Entwicklun­g der Pandemie schwierig.

Newspapers in German

Newspapers from Germany