Kriegsgegner droht Lagerhaft in Russland
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs geht Russland besonders hart gegen Kritiker vor. Nun will die Justiz den Menschenrechtler Oleg Orlow hinter Gitter bringen.
MOSKAU (dpa) Für den Fall der Fälle hat der russische Menschenrechtler Oleg Orlow seine Gefängnistasche schon gepackt. Turnschuhe ohne Schnürsenkel sind drin, ein warmer Jogginganzug und auch ein bisschen Essen. „Klar habe ich Angst“, sagt Orlow. Weil er Russlands Krieg gegen die Ukraine kritisierte, drohen dem 70-Jährigen mehrere Jahre Straflager. Da hilft es auch nicht, dass Orlow international bekannt ist oder dass seine in Russland mittlerweile verbotene Organisation Memorial mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist.
Mehrfach hat Orlow, der früher die Menschenrechtsabteilung von Memorial leitete, seine Gefängnistasche bereits mit zum Gericht gebracht – und dann wieder mit nach Hause genommen. Angefangen hatte alles vor mehr als einem Jahr mit einem Artikel, in dem Orlow den von Kremlchef Wladimir Putin angeordneten Krieg unter dem Titel „Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen“kritisierte. Dafür wurde er in seiner Heimat der „Diskreditierung“der russischen Armee beschuldigt – international war die Solidarität aber groß. Doch dann wurde gegen Orlow – für viele überraschend – zunächst nur eine Geldstrafe in Höhe von 150 000 Rubel (rund 1500 Euro) verhängt.
Auch in einem anschließenden
Berufungsverfahren wurde Mitte Dezember kein härteres Urteil gefällt – stattdessen entschied die Richterin, den Prozess noch einmal ganz neu aufzurollen. Wann das passieren wird, ist derzeit nicht bekannt. Klar ist aber, dass die russische Justiz Orlow dann doch noch hinter Gitter bringen kann – denn das ist es, was die Staatsanwaltschaft eigentlich fordert.
Über die Hintergründe dieses Verfahrens kann nur spekuliert werden. Immerhin sind seit Beginn des Einmarsches in die Ukraine schon zahlreiche andere Kriegsgegner in Russland in viel schnelleren Prozessen zu teils langen Haftstrafen verurteilt worden.
Ist in Orlows Fall aus Sicht der Justiz ein Fehler passiert? War es eine Art Fauxpas eines Moskauer Bezirksgerichts, das mit politischen Verfahren vorher noch nicht besonders erfahren war? Orlow hält das für möglich. Im eigentlichen Prozess habe die Staatsanwaltschaft schlicht keine haltbaren Vorwürfe vorgebracht, in der Anklageschrift im Berufungsverfahren wiederum seien dann auf einmal ganz neue aufgetaucht. Diese aber seien „sehr merkwürdig“und „ganz schlecht geschrieben“gewesen, erinnert er sich.
„Man hat den Eindruck, dass sie diese Lügen mit dem linken Bein geschrieben haben“, sagt der Menschenrechtler. Konkret sei ihm die „Diskreditierung des Einsatzes der Armee zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation, ihrer Bürger, des internationalen Friedens und der Sicherheit“vorgeworfen worden, führt er aus. „Ich habe vor Gericht gesagt, dass ich finde, dass die Abkommandierung der Armee in die Ukraine den Interessen Russlands und seiner Bürger widerspricht. Ich bin ein Bürger Russlands. Und meinen Interessen widerspricht das.“
Orlow ist ein Mann der Prinzipien. Das ursprüngliche Urteil hat nicht nur die Staatsanwaltschaft angefochten, sondern auch er selbst. „Ich habe von Anfang an gesagt: Jeden beliebigen Schuldspruch werde ich anfechten. Und das, obwohl mir davon abgeraten wurde“, erzählt er. „Sie haben gesagt: Warum machst du das? Das ist doch so ein mildes Urteil.“Doch er sagt: „Dessen, was mir vorgeworfen wird, habe ich mich nicht schuldig gemacht.“