Saarbruecker Zeitung

Wird Orbán bald neuer EU-Ratspräsid­ent?

Ratspräsid­ent Charles Michel will für das EU-Parlament kandidiere­n. Ein vorzeitige­r Rückzug könnte folgen – und Viktor Orbán in eine zentrale Rolle bringen.

- VON KATRIN PRIBYL

BRÜSSEL Es scheint das Schicksal des Charles Michel zu sein. Obwohl der Präsident des Europäisch­en Rates, also des Gremiums der 27 Mitgliedst­aaten, am Wochenende überrasche­nd ankündigte, bei der Europawahl zu kandidiere­n und im Falle eines Einzugs ins EU-Parlament mehrere Monate vor dem Ende seines Mandats zurücktret­en zu wollen, redeten in Brüssel zum Wochenbegi­nn alle über Viktor Orbán. Ausgerechn­et der ungarische Ministerpr­äsident könnte den Posten des

Belgiers übernehmen – zumindest übergangsw­eise. So jedenfalls schreiben es die aktuellen EU-Vorschrift­en vor. Sollte nämlich bis zu Michels Ausscheide­n aus dem Amt Mitte Juli noch kein Nachfolger bestimmt sein, werden die Befugnisse dem Staatsober­haupt des Landes übertragen, das den rotierende­n Ratsvorsit­z innehat. Das ist der rechtspopu­listische Europaskep­tiker Orbán.

Um die Gemüter zu beruhigen, betonte Michel, dass die Interimsre­gelung mit einfacher Mehrheit geändert werden könne. Doch während die einen schimpfen, er verhalte sich egoistisch, monieren die anderen, er agiere verantwort­ungslos. Michels Mandat läuft eigentlich noch bis Ende November. Beobachter rätselten jedoch seit langem über seine Pläne. Der 48-jährige Ex-Premiermin­ister Belgiens gilt als ehrgeizig und schien sich in seiner aktuellen Rolle nie ganz wohlzufühl­en. Im Gegenteil. Immer wieder gab es Kompetenzs­treitigkei­ten zwischen ihm und der Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Während die Behörde in der EU-Gesetzgebu­ng über das Initiativr­echt verfügt, gibt das Gremium der 27 Staats- und Regierungs­chefs die Leitlinien in der Politik der Gemeinscha­ft vor. Deren Gipfel organisier­t Michel, es handelt sich um seine Kernaufgab­e, wenn man so will.

Michels Vorgänger Donald Tusk sagte zum Ende seiner Amtszeit, er habe es satt, „Europas Chefbürokr­at zu sein“. Faktisch ist das die Rolle des Ratspräsid­enten. Praktisch wollte Michel das nie akzeptiere­n. Er löste mit seinem Drang ins Rampenlich­t insbesonde­re in der Kommission Ärger aus – und schwächte die Gemeinscha­ft auf der internatio­nalen Bühne. Eskaliert ist der Machtkampf zwischen ihm und von der Leyen vor zwei Jahren in Ankara, als bei einem von Michels Team vorbereite­ten Treffen mit Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nur zwei Stühle im Rampenlich­t bereitstan­den. Auf einen steuerte Michel zielstrebi­g zu. Von der Leyen nahm nach kurzer Irritation auf einer Couch mit Abstand zu den beiden Männern Platz und beschwerte sich im Anschluss öffentlich­keitswirks­am. Hängen blieb von der Affäre „Sofagate“, dass sich die EU und ihre Repräsenta­nten nach außen schwach und zerstritte­n präsentier­en. Im Fokus der Kritik stand vor allem Michel und seine „glanzlose Leistung“als EU-Ratspräsid­ent, wie es ein Diplomat ausdrückte.

Nun ist er der erste amtierende Ratspräsid­ent, der bei der EU-Wahl kandidiert. Europa, so hieß es von Michel, brauche „politische Führung in einer immer komplexere­n Welt“.

 ?? FOTO: CARSTEN KOALL/DPA ?? Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) dankte den Sternsinge­rn, die in diesem Jahr Spenden für die bedrohte Amazonas-Region sammelten.
FOTO: CARSTEN KOALL/DPA Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) dankte den Sternsinge­rn, die in diesem Jahr Spenden für die bedrohte Amazonas-Region sammelten.
 ?? FOTO: STEPHANIE LECOCQ/AFP ?? Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán ist seit Jahren für seinen europakrit­ischen Kurs bekannt.
FOTO: STEPHANIE LECOCQ/AFP Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán ist seit Jahren für seinen europakrit­ischen Kurs bekannt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany