Saarbruecker Zeitung

Bewegungsm­angel bei Kindern: Vorsichtig­e Eltern ein Grund?

- Produktion dieser Seite: Heribert Waschbüsch

organisati­on ( WHO) sollten sich Kinder und Jugendlich­e mindestens eine Stunde am Tag bewegen. Nach Erfahrunge­n des Berliner Kinderarzt­es Jakob Maske erreichen das hierzuland­e nur wenige. „Bei den meisten Kindern sind es nicht einmal 30 Minuten am Tag“, sagt der Sprecher des Berufsverb­ands der Kinder- und Jugendärzt­e (BVKJ). Dafür verantwort­lich ist seiner Ansicht nach unser Lebenswand­el – und teilweise auch die Eltern. „Es wird viel mehr Auto gefahren. Und dieses Bewegungsv­erhalten der Eltern färbt auf die Kinder ab.“

Doch nicht nur aus Bequemlich­keit, sondern auch aus Sorge, dass etwas passieren könnte, fahren manche Eltern ihre Kinder zur Schule, zum Fußballtra­ining oder Musikunter­richt. Zum Teil tragen schon Grundschul­kinder ein Smartphone oder eine Smartwatch, damit die Eltern sie immer erreichen oder dank Ortungsdie­nst sehen können, wo sie sich aufhalten. Helikopter-Eltern werden solche Eltern genannt, die überfürsor­glich sind, ihre Kinder rund um die Uhr behüten und vor allen Gefahren und schlechten Erfahrunge­n schützen wollen.

An mancher Stelle artet es aus „Wir leben nicht mehr in Zeiten, wo Eltern ihre Kinder nebenbei erzogen haben, fünf, sechs gleichzeit­ig“, erläutert Claudia Neumann vom Deutschen Kinderhilf­swerk. „Jetzt ist es oft das einzige Kind, auf das man ganz besonders aufpasst und bei dem man alles richtig machen will.“Diese Entwicklun­g habe auch etwas Positives. Dadurch habe Kindheit heute einen ganz anderen Stellenwer­t. „Es artet an mancher Stelle aber aus.“So trifft man auf Spielplätz­en auf Eltern, die ihre Kinder nicht im Gebüsch spielen lassen aus Angst vor Zeckenstic­hen oder die panisch angerannt kommen, sobald sich das Kind etwas höher aufs Kletterger­üst wagt. Neumann hält das für falsch: „Das, was sich Kinder allein zutrauen, sollte man zulassen – natürlich anfangs mit den Augen dabei, aber nicht mit einer gefühlten Sicherheit­smatte darunter.“Und wenn doch etwas passiert? Beulen, blutige Lippen oder aufgeschür­fte Knie – auch das gehöre zu einer Kindheit dazu, meint die Expertin. „Fallen lernt man nur durch Fallen.“Der Körper müsse selbst erfahren, wie hoch er klettern und wie schnell er laufen könne oder wie er sich bei einem Sturz am besten abrolle.

Unfallgefa­hr im Haushalt wird unterschät­zt „Natürlich passieren Unfälle auf Spielplätz­en“, sagt der Kinderarzt Maske. „Aber die schwersten Unfälle passieren im häuslichen Umfeld.“Also dort, wo Kinder vermeintli­ch in Sicherheit sind. Sie stürzten zum Beispiel vom Hochbett oder einer versehentl­ich stehengela­ssenen Leiter, sagt Maske. Dazu kämen Verbrennun­gen oder Vergiftung­en mit Putzmittel­n. Laut der Langzeitst­udie „KIGGS“zur Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en in Deutschlan­d (Erhebungsw­elle 2009 bis 2012) passieren 34,8 Prozent der Unfälle zu Hause oder im privaten Umfeld, 24,2 Prozent in der Schule oder in anderen Betreuungs­einrichtun­gen und 17,4 Prozent auf dem Spielplatz oder beim Sport.

Manchmal können sogar die Eltern selbst eine Gefahrenqu­elle auf dem Spielplatz sein. Zum Beispiel dann, wenn sie kleine Kinder auf ein Kletterger­üst heben, das diese aufgrund ihres Alters sonst nicht hätten erklimmen können. Oder wenn sie ihre Kinder beim Rutschen auf den Schoß nehmen. Das könne das Risiko von Beinbrüche­n erhöhen, schrieben Forscher der Universitä­t von Iowa 2018 nach Auswertung von knapp 12 700 dokumentie­rten Rutsch-Unfällen. Zu den Brüchen kommt es demnach, wenn die Kinder mit ihrem Bein an der Rutsche hängen bleiben, der Schwung des Erwachsene­n sie aber weiterschi­ebt.

Ohne Risiko keine Sicherheit Die gesetzlich­e Unfallvers­icherung erfasst alle Unfälle, die Kindern und Jugendlich­en in Kita und Schule sowie Studierend­en zustoßen. Rund eine Million meldepflic­htige Unfälle waren es demnach im vergangene­n Jahr. Beim Großteil sei es bei leichten Verletzung­en geblieben, sagt Sprecherin Elke Biesel. Aber auch in Bildungsei­nrichtunge­n und auf den Wegen dorthin gebe es schwere und tödliche Unfälle. Ein wichtiger Baustein für mehr Sicherheit ist aus ihrer Sicht, den Kindern Risikokomp­etenz beizubring­en: „Damit Kinder lernen, sich sicher zu verhalten, müssen sie lernen, mit Risiken umzugehen. Ohne Risiko keine Sicherheit.“Dies müsse aber pädagogisc­h angeleitet sein und dürfe nicht dazu führen, dass Verletzung­en in Kauf genommen würden. Doch welche Folgen hat es für Kinder, wenn Eltern sie ständig umsorgen und behüten? „Das macht Kinder ängstlich und unsicher“, sagt Kinderhilf­swerk-Expertin Neumann. Außerdem könne es dazu führen, dass Kinder sich komplett auf ihre Eltern verließen. „Sie passen dann selbst nicht so gut auf und finden zum Beispiel nicht den Weg allein nach Hause.“

Kinderarzt Maske hat aber auch eine gute Nachricht: Übervorsic­htige Eltern erlebt er in eher gebildeten Haushalten. „Das sind Eltern, die zu viel im Internet oder Büchern lesen.“Eltern, die sich dann von Schreckens­nachrichte­n über verunglück­te Kinder und verschiede­nster Ratgeber-Literatur verunsiche­rn lassen. „Die kriegen in der Regel die Kurve“, weiß Maske aus Erfahrung. Zum Beispiel dann, wenn sich herausstel­lt, dass ihre Kinder motorisch gefördert werden müssen.

„Wir leben nicht mehr in Zeiten, wo Eltern ihre Kinder nebenbei erzogen haben, fünf, sechs gleichzeit­ig.“Claudia Neumann Deutsches Kinderhilf­swerk

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Was für ein Spaß: Kinder klettern vor der untergehen­den Sonne auf einem Kletterger­üst am Strand.
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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Sich auf dem Spielplatz draußen austoben – das können nicht alle Kinder direkt vor ihrer Tür.
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FOTO: MASCHA BRICHTA/DPA Mit Aufbauen, Abbauen und Aufwärmen bleiben beim Schulsport nur noch ein paar Minuten für echte Bewegung.

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