Saarbruecker Zeitung

Butter und Fleisch werden in Türkei zum Luxus

Wer sich in der Türkei über die deutsche Inflation beschwert, erntet nur ein Lächeln. Bei knapp 65 Prozent lag die Teuerung im Dezember. Sogar die Zentralban­kchefin findet in Istanbul keine bezahlbare Wohnung mehr.

- VON ANNE POLLMANN

(dpa) Wenn Marktverkä­ufer Sabri Yavuz sich am Morgen auf den Weg macht, um Weißkohl und Zitronen zu verkaufen, weiß er bereits, dass er am Abend mit zu wenig Geld nach Hause gehen wird. „Wir kommen nicht über die Runden“, sagt der 45-Jährige. Auf dem Tisch vor ihm stapeln sich dicke Kohlköpfe, die er auf einem Istanbuler Markt anbietet. Die Leute kauften nichts, viele beschwerte­n sich über die

Preise, sagt der Familienva­ter, der oft nicht weiß, wie es weitergehe­n soll. Die Inflations­rate in der Türkei lag zuletzt bei satten 64,77 Prozent im Jahresverg­leich und dürfte in den kommenden Monaten noch steigen. Vor allem Menschen der mittleren und unteren Schichten treibt das in Existenzkr­isen.

Als Grund für die hohe Inflation gilt die Wirtschaft­spolitik, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Vergangenh­eit forciert hat. Niedrige Zinsen, um jeden Preis. Die Inflation schoss in die Höhe und lag im Oktober 2021 bei mehr als 85 Prozent. Erst nach den Wahlen im Mai 2023 und einem Wechsel an den Spitzen von Zentralban­k und Wirtschaft­sministeri­um leitete Erdogan einen Kurswechse­l ein. Der Leitzins wurde deutlich angehoben und liegt derzeit bei 42,40 Prozent. Doch der Kampf gegen die Inflation braucht einen langen Atem.

Dass es für viele Leute finanziell deutlich enger geworden ist, zeigt sich auch in Supermärkt­en, wo etwa Butter, Zahnpasta, Olivenöle oder Babynahrun­g teilweise nur noch alarmgesic­hert ins Regal gestellt werden. Im vergangene­n Jahr entwarf der Kommunikat­ionsdesign­er Mahir Akkoyun einen Sticker, mit dem er seinem Unmut über die Preissteig­erungen Ausdruck verlieh. „Ist dieses Produkt zu teuer? Dank Erdogan“stand darauf, daneben ein Foto des türkischen Präsidente­n. Der Urheber wurde kurzerhand festgenomm­en und angeklagt, wenn auch im Prozess freigespro­chen.

Besonders Wohnraum ist für viele Menschen unerschwin­glich geworden. Im November 2023 lagen die Preise landesweit im Schnitt 86,5 Prozent über denen des Vorjahres. So stark wie in der Türkei stiegen die Mieten im vierten Quartal 2023 in keinem anderen OECD-Land, wie aus einer Statistik der Organisati­on hervorgeht. Weil Mieterhöhu­ngen rechtlich auf 25 Prozent begrenzt sind, versuchen viele Vermieter mit allen Mitteln, ihre Mieter rauszuwerf­en. Zivilgeric­hte ächzen Berichten zufolge unter einer Flut von Mieträumun­gsklagen.

Über die Immobilien­krise klagte kürzlich auch die Zentralban­kchefin Hafize Gaye Erkan in einem Interview, das hohe Wellen schlug. Sie habe keinen bezahlbare­n Wohnraum in Istanbul gefunden und sei darum wieder bei ihrer Mutter eingezogen. Die Notenbankc­hefin verdient laut Berichten monatlich etwa 5 000 Euro und stieß auch deshalb mit ihren Aussagen auf viel Unverständ­nis etwa bei Geringverd­ienern.

Erol Günes verkauft sechs Tage die Woche Handtasche­n auf Märkten. „Wir gehören zur untersten Schicht in der Türkei. Uns geht es schlecht, den Reichen geht es gut. Aber das

traut sich keiner zu sagen. Wer es sagt, sitzt zwei Minuten später im Knast“, sagt der 50-jährige Kurde und Vater zweier Kinder. Mit zehn Kreditkart­en im Portemonna­ie versuche er, über die Runden zu kommen. Bisher habe er 200 000 Lira Schulden (gut 6 000 Euro). Das machten alle so. Ende Dezember trieben Schulden einen 42-Jährigen viermalige­n Vater dazu, sich aus der dritten Etage eines Istanbuler Einkaufsze­ntrums in das Foyer zu stürzen. An die Brüstung geklammert rief er: „Ich habe Hunger, meine Kinder haben Hunger, ich habe

Schulden“. Der Mann überlebte schwer verletzt.

„Die Inflation vernichtet die Mittelschi­cht und führt zu Extremen. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer“, sagt Ökonom Seref Oguz. In Straßenumf­ragen berichten Menschen davon, dass sie hungrig ins Bett gehen, mit über 70 wieder zu arbeiten beginnen müssen, weil ihre Rente nicht zum Überleben reicht. Der Mindestloh­n, den laut Regierung 37 Prozent der Menschen beziehen, wurde kürzlich erst auf 17 002 Lira (518 Euro) angehoben. Gewerkscha­ften kriti

sierten das als deutlich zu wenig.

An die Prognose der Regierung, dass die Inflation bis zum Jahresende auf 34 Prozent sinken wird, glaubt Ökonom Oguz nicht. Dass die Regierung den langen Atem haben werde, den es zur Bekämpfung der Inflation brauche, bezweifelt er. „Um sie langfristi­g runterzube­kommen, muss die orthodoxe Wirtschaft­spolitik streng fortgesetz­t werden. Gleichzeit­ig muss auch die Regierung auf ihre populistis­che Rhetorik verzichten und es muss ein starker Sparkurs bei den öffentlich­en Ausgaben gefahren werden.“

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FOTO: ANNE POLLMANN/DPA In der Türkei leiden viele Menschen unter der seit Jahren extrem hohen Inflation. Im Dezember betrug sie 65 Prozent. Butter, Babynahrun­g (hier im Bild) oder Zahnpasta werden zu Luxusgüter­n.

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