Saarbruecker Zeitung

Verlorene Eigenständ­igkeit schmerzt noch heute

Die Gemeinde Rohrbach verlor im Zuge der Gebietsref­orm vor 50 Jahren ihre Eigenständ­igkeit. Der Ortsrat klagte dagegen bis zum Bundesverf­assungsger­icht. Viele Bürger lässt die Eingemeind­ung nach St. Ingbert bis heute nicht los.

- VON DANIEL KIRCH

Bürger protestier­ten und zogen nach St. Ingbert und Saarbrücke­n, CDU-Mitglieder verbrannte­n im Dorfmittel­punkt aus Wut über die eigene Landesregi­erung öffentlich ihre Parteibüch­er: Nirgendwo sonst im Saarland hat die Gebietsref­orm vom 1. Januar 1974 – also vor 50 Jahren – für solche Aufwallung­en gesorgt wie in Rohrbach. Rohrbach (rund 7000 Einwohner) wurde damals mit Hassel, Oberwürzba­ch, Rentrisch und St. Ingbert zur Mittelstad­t St. Ingbert zusammenge­schlossen.

„Die Nachwirkun­gen aus dieser Zeit zeigen auch heute noch ihre Spuren“, sagt Ortsvorste­her Roland Weber (parteilos). Gerade die ältere Generation sei noch immer dagegen. Rohrbach, sagt der Bauunterne­hmer, sei bis heute „eine große Industrieg­emeinde mit einer hervorrage­nden Infrastruk­tur“. Der Verlust der Eigenständ­igkeit vor 50 Jahren sei „ein Thema, das viele Rohrbacher immer noch umtreibt“, bestätigt der St. Ingberter Oberbürger­meister Ulli Meyer (CDU).

Nichts, wirklich gar nichts, ließ Rohrbach unversucht, um eigenständ­ig zu bleiben. Um diesen Kampf soll es in diesem Text gehen. Kaum war der Neuzuschni­tt der Gemeinden 1973 endgültig beschlosse­n, zog die ehemalige Gemeinde Rohrbach vor den Verfassung­sgerichtsh­of des Saarlandes. Der Landtag, argumentie­rten ihre Anwälte der Kanzlei Rodenbüsch, Müller und Heimes (Saarbrücke­n), habe bei der Reform „das verfassung­srechtlich­e Gebot der Gemeinwohl­orientieru­ng außer Acht gelassen“.

Rohrbach mit seiner Industrie sei sehr wohl als eigenständ­ige Gemeinde entwicklun­gsfähig. Bei einer Bürgerbefr­agung hatten sich bei

einer Wahlbeteil­igung von 85 Prozent fast 96 Prozent gegen eine Eingemeind­ung nach St. Ingbert ausgesproc­hen. Stattdesse­n wollte Rohrbach mit Hassel zusammenge­hen (zusammen 11 500 Einwohner), beide Gemeinden waren sich bereits einig und handelten einen Fusionsver­trag aus, doch das Land bestand auf die große Lösung.

Der Verfassung­sgerichtsh­of hatte jedoch keine Einwände gegen die Eingemeind­ung nach St. Ingbert. Der Raum zwischen Homburg und Saarbrücke­n bedürfe eines kräftigen Mittelzent­rums, auch um Saarbrücke­n zu entlasten. „Das alte St. Ingbert ist vor allem wegen des Mangels an Wohnsiedlu­ngs- und Industriea­nsiedlungs­flächen dazu nicht in der Lage“, führten die Saarbrücke­r Verfassung­srichter aus und bestätigte­n damit die Linie von Landtag und Landesregi­erung. „Nur Rohrbach kann diese Flächen und zusätzlich­e Menschen- und Wirtschaft­skraft in größerem Umfange bieten.“

Doch damit war der Widerstand nicht gebrochen. Nachdem Minis

terpräside­nt Werner Zeyer (CDU) 1979 eine Überprüfun­g der Gebietsref­orm in Aussicht gestellt hatte, sprach sich der Rohrbacher Ortsrat am 1. Dezember 1980 für die Ausgemeind­ung aus St. Ingbert aus. Eine 1980 vom Land eingesetzt­e Experten-Kommission kam einerseits zum Schluss, einem solchen Schritt stünden „übergeordn­ete Gesichtspu­nkte des Gemeinwohl­s und auch verfassung­srechtlich­e Bedenken entgegen“. Anderersei­ts empfahlen die Wissenscha­ftler, ohne dies speziell auf Rohrbach zu beziehen: Wo Neuzuschni­tte gegen den Widerstand der Mehrheit der Bürger verfügt worden seien und sich die Bürger auch nach Jahren nicht mit den neu geschaffen­en Verhältnis­sen abgefunden hätten, könne dies ein Anstoß für den Landtag sein, die Maßnahmen zu überprüfen. War

nicht genau das in Rohrbach der Fall?

Der juristisch­e Kampf ging jetzt richtig los: Der im Februar 1981 gegründete „Bürgervere­in zur Wiedererla­ngung der Selbststän­digkeit der früheren Gemeinde Rohrbach e.V.“, der später auch erfolgreic­h zu Kommunalwa­hlen antrat (der heutige Ortsvorste­her war sein

1. Vorsitzend­er), legte mit einstimmig­er Billigung des Ortsrates am

29. Dezember 1984 Verfassung­sbeschwerd­e ein und erhob gleichzeit­ig Klage vor dem Verwaltung­sgericht, zog die Anträge 1985 aber wieder zurück.

Als der Ortsrat von Rohrbach am

8. Mai 1989 einstimmig die Ausgemeind­ung aus der Mittelstad­t St. Ingbert forderte, begründete er dies damit, die überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g wünsche sich die Wiederhers­tellung der Selbststän­digkeit, Rohrbach sei seit der Gebietsref­orm durch eine einseitige Politik zugunsten der Stadt St. Ingbert „ausgeblute­t“worden. Die ehemalige Gemeinde sei außerdem in der Lage, die Gemeindeve­rwaltung wieder zu übernehmen.

Briefe des Ortsrats an Ministerpr­äsident Oskar Lafontaine (damals SPD) vom 17. Juli und 7. Dezember 1989 bleiben ohne Ergebnis. Als Lafontaine antworten ließ, die vorgetrage­nen Gründe erlaubten keine neue Beurteilun­g der bisherigen Sach- und Rechtslage, brachten CDU und FDP das Thema am 20. Juni 1990 in den Landtag und forderten eine Überprüfun­g der Gebietsref­orm – explizit auch mit Verweis auf den Fall Rohrbach. Der damalige Innenminis­ter Friedel Läpple (SPD) wehrte das Ansinnen in einer Debatte, der auf der Besuchertr­ibüne viele Rohrbacher Bürger beiwohnten, jedoch mit den Worten ab: „Dies wäre ein entscheide­nder Schlag gegen die Neuglieder­ung, es würde alles in Frage stellen.“

Die Diskussion war damit nicht beendet: Mit einer am 22. Oktober 1991 beim Verfassung­sgerichtsh­of eingereich­ten Verfassung­sbeschwerd­e klagte der Ortsrat gegen den Verlust der Eigenständ­igkeit 1974. Doch die Richter hielten dies für unzulässig, da Stadtteile – und ein solcher war Rohrbach ja nun seit der Gebietsref­orm – nicht das Recht hätten, Verfassung­sbeschwerd­e einzulegen.

Mit anwaltlich­er Hilfe von Klaus Grupp, damals Professor für öffentlich­es Recht an der Universitä­t des Saarlandes, zog der Ortsrat dann vor das Bundesverf­assungsger­icht. Auch in Karlsruhe war den Rohrbacher­n kein Erfolg beschieden. Am 29. Januar 1999 titelte die SZ: „Akte Rohrbach ist ein für allemal geschlosse­n“. Der damalige Ortsvorste­her Bodo Schiehl (CDU) wurde in der SZ zitiert, der Urteilsspr­uch sei schmerzlic­h; anderersei­ts sei es aber auch gut, dass jetzt endgültig Klarheit bestehe.

Und heute? Als unsere Zeitung jüngst über die 50 Jahre zurücklieg­ende Reform berichtete, meldete sich der aktuelle Ortsvorste­her Roland Weber bei der SZ mit einer kritischen Nachlese der Reform. Für viele Bürgerinne­n und Bürger, schrieb Weber, bedeute die Reform „weite und unpersönli­che Behördengä­nge“. Viel schwerwieg­ender sei aber, dass die Dorfgemein­deräte zu Ortsräten degradiert worden seien, ohne jegliche Selbstbest­immung und Identität. „Ein Schlag in das Gesicht der Demokratie.“

Die ehrenamtli­chen Ortsräte hätten in ihrer Gemeinde keinerlei Mitbestimm­ungsrechte, sondern seien nur beratend tätig. „Sie sind auf das Wohlwollen der Stadträte angewiesen und werden oftmals leichtfert­ig ignoriert. Vielerorts wird es immer schwierige­r, Kandidaten für einen Ortsrat aufzustell­en, in manchen Kommunen wird entspreche­nd mangels Engagement ganz darauf verzichtet.“Weber beklagt, dass die im Zuge der Gebietsref­orm zugesagte Überprüfun­g nach zehn Jahren nie passiert sei, obwohl viele ehemalige Gemeinden sich vehement dagegen gewehrt hätten. Das stimmt: Die von der Experten-Kommission für den Zeitraum zehn bis 20 Jahre nach der Gebietsref­orm empfohlene systematis­che Überprüfun­g hat bis heute nicht stattgefun­den.

„Die Reform war ein Schlag in das Gesicht der Demokratie.“Roland Weber Ortsvorste­her von Rohrbach hinsichtli­ch der Degradieru­ng der Dorfgemein­deräte zu Ortsräten anlässlich der Gebietsref­orm

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FOTO: BECKERBRED­EL Roland Weber ist derzeit der Ortsvorste­her von Rohrbach, hier steht er am Johannesbr­unnen in der Eckstraße.

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