Verlorene Eigenständigkeit schmerzt noch heute
Die Gemeinde Rohrbach verlor im Zuge der Gebietsreform vor 50 Jahren ihre Eigenständigkeit. Der Ortsrat klagte dagegen bis zum Bundesverfassungsgericht. Viele Bürger lässt die Eingemeindung nach St. Ingbert bis heute nicht los.
Bürger protestierten und zogen nach St. Ingbert und Saarbrücken, CDU-Mitglieder verbrannten im Dorfmittelpunkt aus Wut über die eigene Landesregierung öffentlich ihre Parteibücher: Nirgendwo sonst im Saarland hat die Gebietsreform vom 1. Januar 1974 – also vor 50 Jahren – für solche Aufwallungen gesorgt wie in Rohrbach. Rohrbach (rund 7000 Einwohner) wurde damals mit Hassel, Oberwürzbach, Rentrisch und St. Ingbert zur Mittelstadt St. Ingbert zusammengeschlossen.
„Die Nachwirkungen aus dieser Zeit zeigen auch heute noch ihre Spuren“, sagt Ortsvorsteher Roland Weber (parteilos). Gerade die ältere Generation sei noch immer dagegen. Rohrbach, sagt der Bauunternehmer, sei bis heute „eine große Industriegemeinde mit einer hervorragenden Infrastruktur“. Der Verlust der Eigenständigkeit vor 50 Jahren sei „ein Thema, das viele Rohrbacher immer noch umtreibt“, bestätigt der St. Ingberter Oberbürgermeister Ulli Meyer (CDU).
Nichts, wirklich gar nichts, ließ Rohrbach unversucht, um eigenständig zu bleiben. Um diesen Kampf soll es in diesem Text gehen. Kaum war der Neuzuschnitt der Gemeinden 1973 endgültig beschlossen, zog die ehemalige Gemeinde Rohrbach vor den Verfassungsgerichtshof des Saarlandes. Der Landtag, argumentierten ihre Anwälte der Kanzlei Rodenbüsch, Müller und Heimes (Saarbrücken), habe bei der Reform „das verfassungsrechtliche Gebot der Gemeinwohlorientierung außer Acht gelassen“.
Rohrbach mit seiner Industrie sei sehr wohl als eigenständige Gemeinde entwicklungsfähig. Bei einer Bürgerbefragung hatten sich bei
einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent fast 96 Prozent gegen eine Eingemeindung nach St. Ingbert ausgesprochen. Stattdessen wollte Rohrbach mit Hassel zusammengehen (zusammen 11 500 Einwohner), beide Gemeinden waren sich bereits einig und handelten einen Fusionsvertrag aus, doch das Land bestand auf die große Lösung.
Der Verfassungsgerichtshof hatte jedoch keine Einwände gegen die Eingemeindung nach St. Ingbert. Der Raum zwischen Homburg und Saarbrücken bedürfe eines kräftigen Mittelzentrums, auch um Saarbrücken zu entlasten. „Das alte St. Ingbert ist vor allem wegen des Mangels an Wohnsiedlungs- und Industrieansiedlungsflächen dazu nicht in der Lage“, führten die Saarbrücker Verfassungsrichter aus und bestätigten damit die Linie von Landtag und Landesregierung. „Nur Rohrbach kann diese Flächen und zusätzliche Menschen- und Wirtschaftskraft in größerem Umfange bieten.“
Doch damit war der Widerstand nicht gebrochen. Nachdem Minis
terpräsident Werner Zeyer (CDU) 1979 eine Überprüfung der Gebietsreform in Aussicht gestellt hatte, sprach sich der Rohrbacher Ortsrat am 1. Dezember 1980 für die Ausgemeindung aus St. Ingbert aus. Eine 1980 vom Land eingesetzte Experten-Kommission kam einerseits zum Schluss, einem solchen Schritt stünden „übergeordnete Gesichtspunkte des Gemeinwohls und auch verfassungsrechtliche Bedenken entgegen“. Andererseits empfahlen die Wissenschaftler, ohne dies speziell auf Rohrbach zu beziehen: Wo Neuzuschnitte gegen den Widerstand der Mehrheit der Bürger verfügt worden seien und sich die Bürger auch nach Jahren nicht mit den neu geschaffenen Verhältnissen abgefunden hätten, könne dies ein Anstoß für den Landtag sein, die Maßnahmen zu überprüfen. War
nicht genau das in Rohrbach der Fall?
Der juristische Kampf ging jetzt richtig los: Der im Februar 1981 gegründete „Bürgerverein zur Wiedererlangung der Selbstständigkeit der früheren Gemeinde Rohrbach e.V.“, der später auch erfolgreich zu Kommunalwahlen antrat (der heutige Ortsvorsteher war sein
1. Vorsitzender), legte mit einstimmiger Billigung des Ortsrates am
29. Dezember 1984 Verfassungsbeschwerde ein und erhob gleichzeitig Klage vor dem Verwaltungsgericht, zog die Anträge 1985 aber wieder zurück.
Als der Ortsrat von Rohrbach am
8. Mai 1989 einstimmig die Ausgemeindung aus der Mittelstadt St. Ingbert forderte, begründete er dies damit, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wünsche sich die Wiederherstellung der Selbstständigkeit, Rohrbach sei seit der Gebietsreform durch eine einseitige Politik zugunsten der Stadt St. Ingbert „ausgeblutet“worden. Die ehemalige Gemeinde sei außerdem in der Lage, die Gemeindeverwaltung wieder zu übernehmen.
Briefe des Ortsrats an Ministerpräsident Oskar Lafontaine (damals SPD) vom 17. Juli und 7. Dezember 1989 bleiben ohne Ergebnis. Als Lafontaine antworten ließ, die vorgetragenen Gründe erlaubten keine neue Beurteilung der bisherigen Sach- und Rechtslage, brachten CDU und FDP das Thema am 20. Juni 1990 in den Landtag und forderten eine Überprüfung der Gebietsreform – explizit auch mit Verweis auf den Fall Rohrbach. Der damalige Innenminister Friedel Läpple (SPD) wehrte das Ansinnen in einer Debatte, der auf der Besuchertribüne viele Rohrbacher Bürger beiwohnten, jedoch mit den Worten ab: „Dies wäre ein entscheidender Schlag gegen die Neugliederung, es würde alles in Frage stellen.“
Die Diskussion war damit nicht beendet: Mit einer am 22. Oktober 1991 beim Verfassungsgerichtshof eingereichten Verfassungsbeschwerde klagte der Ortsrat gegen den Verlust der Eigenständigkeit 1974. Doch die Richter hielten dies für unzulässig, da Stadtteile – und ein solcher war Rohrbach ja nun seit der Gebietsreform – nicht das Recht hätten, Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Mit anwaltlicher Hilfe von Klaus Grupp, damals Professor für öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes, zog der Ortsrat dann vor das Bundesverfassungsgericht. Auch in Karlsruhe war den Rohrbachern kein Erfolg beschieden. Am 29. Januar 1999 titelte die SZ: „Akte Rohrbach ist ein für allemal geschlossen“. Der damalige Ortsvorsteher Bodo Schiehl (CDU) wurde in der SZ zitiert, der Urteilsspruch sei schmerzlich; andererseits sei es aber auch gut, dass jetzt endgültig Klarheit bestehe.
Und heute? Als unsere Zeitung jüngst über die 50 Jahre zurückliegende Reform berichtete, meldete sich der aktuelle Ortsvorsteher Roland Weber bei der SZ mit einer kritischen Nachlese der Reform. Für viele Bürgerinnen und Bürger, schrieb Weber, bedeute die Reform „weite und unpersönliche Behördengänge“. Viel schwerwiegender sei aber, dass die Dorfgemeinderäte zu Ortsräten degradiert worden seien, ohne jegliche Selbstbestimmung und Identität. „Ein Schlag in das Gesicht der Demokratie.“
Die ehrenamtlichen Ortsräte hätten in ihrer Gemeinde keinerlei Mitbestimmungsrechte, sondern seien nur beratend tätig. „Sie sind auf das Wohlwollen der Stadträte angewiesen und werden oftmals leichtfertig ignoriert. Vielerorts wird es immer schwieriger, Kandidaten für einen Ortsrat aufzustellen, in manchen Kommunen wird entsprechend mangels Engagement ganz darauf verzichtet.“Weber beklagt, dass die im Zuge der Gebietsreform zugesagte Überprüfung nach zehn Jahren nie passiert sei, obwohl viele ehemalige Gemeinden sich vehement dagegen gewehrt hätten. Das stimmt: Die von der Experten-Kommission für den Zeitraum zehn bis 20 Jahre nach der Gebietsreform empfohlene systematische Überprüfung hat bis heute nicht stattgefunden.
„Die Reform war ein Schlag in das Gesicht der Demokratie.“Roland Weber Ortsvorsteher von Rohrbach hinsichtlich der Degradierung der Dorfgemeinderäte zu Ortsräten anlässlich der Gebietsreform